Zweite Sprachspur

2014-08-21 11-45-40_0038In unserer Kindergartengruppe ist seit Kurzem ein kleines Mädchen aus Kasachstan. Ihre Mutter spricht und versteht noch wenig Deutsch, darum brachte sie zum letzten Elternabend ihren älteren Sohn als Dolmetscher mit. Als man uns Elternhinterher den neuen Turnraum zeigte, schob ich mich zu ihm durch und sagte, ich hätte früher auch oft für meine Eltern gedolmetscht. Er sollte ihm nicht peinlich sein, dass seine Mutter wenig Deutsch verstand und er als einziger Teenager inmitten lauter Erwachsenen sitzen und ihr ins Ohr flüstern musste.

Es ist nicht wahr, dass ich als Kind für meine Eltern dolmetschen musste. Ich weigerte mich. Auch das ist nicht ganz richtig. Ich habe nie gesagt, ich täte es nicht, sondern immer nur stumm gehofft, dass es nie soweit kommen würde. Es kam auch nie soweit, weil meine Eltern damals schon einigermaßen Deutsch sprachen.

Später habe ich das Übersetzen studiert. Im Unterschied zum Dolmetschen übertragen Übersetzer geschriebene Texte in eine andere Sprache, der Dolmetscher überträgt Gesprochenes. Doch eine gute Übersetzerin bin ich nie geworden. Aus einem englischen Text wurde, nachdem er durch mein Hirn gegangen war, kein deutscher Text. Es kam ein mit deutschen Wörtern geschriebener englischer Text dabei heraus. Ich hatte schon längst einen anderen Beruf ergriffen, als mir langsam schwante, wie eine gute Übersetzung aussehen könnte. Dass man sich frei machen musste vom englischen Text, wenn man einen deutschen Text schreiben wollte. Dass man erst einmal deutsch denken musste, um etwas Deutsches zu produzieren.

Eigentlich hätte ich das wissen können. Ich habe ja schon immer übersetzt, wenn auch nicht für meine Eltern, öffentlich, vor anderen, aber immer nebenher im Kopf. Auf Türkisch, zum Beispiel, kann man sagen: „Wir sitzen mit meiner Mutter auf dem Sofa.“ Gemeint ist, meine Mutter und ich, wir sitzen auf dem Sofa. Der Unterschied ist – betrachtet man nur die Wörter – gering, aber wer auf Deutsch „Wir sitzen mit meiner Mutter auf dem Sofa“ sagt, verschweigt doch mindestens einen Dritten. So lief schon seit jeher beim Sprechen und Hören ein Parallelprogramm in meinem Kopf ab, eine zweite Sprachspur, die aber nie richtig, sondern immer nur schlecht übersetzt klang.

Die kasachische Mutter aus dem Kindergarten spricht Englisch, ich hörte sie im Flur mit der Erzieherin sprechen. Der Junge hat für seine Mutter gedolmetscht, damit die Gruppe nicht gezwungen war, den Elternabend auf Englisch abzuhalten. Am liebsten würde ich zu der Frau gehen und mich entschuldigen, weil ich ihren Sohn bemitleidet habe, wo es doch gar keinen Grund dazu gab. Aber dann lächle ich ihr nur zu und sage nichts. Eins muss ich mir merken: Ein dolmetschendes Kind ist nicht immer ein armes Würstchen.


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