Vergebliche Warnungen

Pass auf. Sei vorsichtig. Langsam. Nicht so schnell. Pass auf, du tust dir weh. Vorsicht. Nein. Halt dich fest. So ist gut. Langsam. Nicht so dolle. Wie oft am Tag hört ein Kind diese Worte? Hört es sie überhaupt? Spiel nicht mit der Steckdose, spiel nicht mit dem Messer, iss langsam, jetzt mach die Augen zu, es ist schon spät.

Jahre später wird daraus „Komm nicht so spät“ und „Fahr vorsichtig.“ Ist schon irgendjemand vorsichtig gefahren, weil ihn die Mutter darum gebeten hat? Wann ist ein Kind nicht von der Schaukel gesprungen, weil die Mutter es warnte? Man könnte es sich ersparen, unentwegt zu warnen und zu informieren. Und man erspart es sich doch nicht. Es beruhigt uns selbst.

In Marokko war ich einmal in der Nähe von Marrakesch wandern oder besser gesagt, spazieren. Wir kamen von einer Konferenz und hatten uns spontan entschlossen, ein wenig zu Fuß zu gehen. Wir mussten über Felsen klettern, an manchen Stellen ging es steil hinab. „Geht langsam“, sagte der junge Mann, der uns den Weg entlangführte. Ein Stück war so schmal, dass wir nur einer nach dem anderen gehen konnten.

Der Mann reichte jedem Einzelnen die Hand, um uns Halt zu geben. Die meisten von uns hatten Schuhe mit glatten Sohlen an, keiner von uns trug Schuhe mit Profil. Immerhin hatte keine der Frauen Schuhe mit hohem Absatz an. „Letzte Woche war ich mit einer Gruppe Franzosen hier“, erzählte der junge Mann beiläufig, als er mir die Hand reichte. „Einer von ihnen hatte auch so glatte Schuhe an.“ Ich ging an ihm vorbei, um Platz für die Nachfolgenden zu machen. „Der ist hier abgestürzt“, sagte er und deutete mit dem Kopf den Abhang hinunter. „Im Krankenhaus ist er dann gestorben.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, unser Begleiter sprach Französisch. „Dabei habe ich ihm gesagt, er müsse aufpassen.“ Er zuckte mit den Schultern, und streckte die Hand dem nächsten aus unserer Gruppe entgegen. Einige wollten daraufhin umkehren. „Wieso?“, fragte der Mann. „Jetzt wisst ihr doch, wo ihr aufpassen müsst.“ Die Gruppe ging zurück zu den Autos.

Ich habe versucht, es so zu machen wie unser Begleiter aus Marrakesch: Die Konsequenzen leichtsinnigen Handelns in ihrer ganzen Breite darstellen. Als ich eines der Kinder mit heruntergelassenen Hosen und Zahnbürste im Mund durch die Wohnung rennen sah, erklärte ich ihm, wie die Bürste im Falle eines Sturzes seinen Nacken perforieren und somit das Genick brechen würde. „Dann bist du tot.“ Bisher hat das wenig Eindruck gemacht. Das nächste Mal werde ich sagen: „Dann muss der Notarzt kommen und du stirbst im Krankenhaus oder auf dem Weg dahin.“ Vielleicht werde ich zum Beweis Bilder zeigen müssen. Wie sie bald die Raucher auf Zigarettenschachteln sehen.


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