Tücken der Anpassung

2014-06-01 17-01-27_0021Auf der Leiter hinauf zur Rutschbahn steht ein Mädchen und ruft seine Mutter. Die Mutter soll helfen, denn das Kind schafft das letzte Stück nicht. Der Abstand zwischen der letzten Sprosse und dem Anfang der Rutschbahn ist zu hoch. „Dann komm wieder runter“, ruft die Mutter. Das Kind schreit: „Hol mich runter.“

Die Mutter sagt zu mir, wenn das Kind alleine hinaufgekommen sei, werde es doch wohl auch wieder alleine herunterkommen. Das klingt logisch. Oft genug aber habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder sich um Logik nicht scheren. Meine Kinder kommen fast überall alleine hinauf, hinunter oder hinein – aber nur selten kommen sie auch alleine wieder hinunter, hinauf oder heraus.

Die Frau an der Rutsche hat mehr Glück, ihr Kind kann leicht gerettet werden. Sie wird keine Zange brauchen so wie wir, als unser Sohn seinen Fuß zwischen die Metallstäbe in der Rückenlehne eines Gartenstuhles geschoben hatte. Das Mädchen auf der Leiter schreit, hinter ihr warten andere Kinder, die auch anfangen zu rufen, und natürlich gibt es Kinder, die zwar oben stehen und in Ruhe rutschen könnten, aber doch lieber wieder die Leiter hinuntergehen wollen.

Doch ein Wunder geschieht – die Kinder oben machen Platz, vielleicht schieben auch die wartenden Kinder. Jedenfalls schafft das Mädchen doch das letzte Stück, ganz alleine. „Siehst Du“, sagt die Mutter zum Kind und zu mir: „In Frankreich eilen die Mütter ihren Kindern nicht bei jeder Kleinigkeit zur Hilfe. Das machen nur die deutschen Mütter.“

Recht hat sie. Ich an ihrer Stelle wäre sehr schnell und sehr deutsch die Leiter hinaufgestiegen, um dem Kind zu helfen und das Geschrei auf der Leiter zu beenden. Mir gefällt die Einstellung der Frau und ich frage mich, ob ich es zu weit getrieben habe mit der Anpassung. Ich hoffe, dass die Frau bald mit ihrem Kind nach Hause geht. Sie soll nicht mitansehen, wie ich eine halbe Stunde lang mein Kind auf der Schaukel anschubse.

Am selben Abend habe ich eine Verabredung mit einer Malerin aus New York. Als wir an der Theke bezahlen wollen, fragt der Mann an der Bar meine Bekannte, wie es ihr auf ihrer letzten Ausstellung ergangen sei. Ich wusste nicht, dass sie sich kennen. Ich wusste lediglich, dass er auch aus New York ist. „Zusammen oder getrennt?“, fragt er uns, klappt seinen riesigen Kellnergeldbeutel auf und wartet. Erst sieht er mich an, lächelt. Dann schaut er sie an, lächelt.

„Zusammen“ sage ich schnell. Ich weiß ja, dass alle Welt über unser deutsches Auseinanderklamüsern der Rechnung lacht. „Getrennt“, sagt meine Bekannte. „Ha, da hast du dich aber wirklich gut angepasst“, sagt der Typ. Wir zahlen jede ihr Getränk und gehen. Ich hoffe, er hat nicht mich gemeint damit.


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