Träumerische Buchhaltung

Meine Freundin führt seit Jahren, nein: seit Jahrzehnten ein Traumtagebuch. Neben ihrem Bett liegen stets ein Notizbuch, Filzstifte, Buntstifte, Bleistifte, Schere und Kleber. Manchmal schreibt sie auf, was sie in der Nacht gesehen hat, manchmal zeichnet sie ganze Szenen aus ihrem Traum, manchmal nur ein Bild, an das sie sich beim Aufwachen erinnern kann. Wenn sie sich an einzelne Begebenheiten nicht erinnern kann, beschreibt sie das Gefühl, mit dem sie aufgewacht ist. In dem Traumtagebuch gelesen habe ich nie, sie hat mir nur einmal aus großem Abstand eine Papiercollage gezeigt. Sie sah sehr schön aus, aber was sie genau darstellen sollte, habe ich nicht erkannt.

Viele Leute können sich später nicht an ihre Träume erinnern. Auch ich weiß am Tag nicht mehr, was mir in der vergangenen Nacht im Kopf herumgespukt ist. Aber sobald ich mich hinlege, fällt es mir wieder ein. Ich muss dazu noch gar nicht richtig liegen. Meine Erinnerung kommt schon im Hinabsinken zurück, noch bevor mein Kopf auf dem Kissen liegt. Dann weiß ich wieder, worum es in meinem Traum ging und wer darin vorkam. Die Bilder kommen zurück, Handlungen, manchmal ein ganzer Traum.

An manchen Tagen wache ich morgens auf und frage mich, ob ich das, was ich glaube, geträumt zu haben, tatsächlich in der vergangenen Nacht geträumt habe oder schon viel früher. Oder ob es nicht einfach nur ein alter Traum war, der immer wiederkommt.

Zwei, drei Tage habe ich es geschafft, mir am Morgen rasch Notizen zu machen. Dann war tagelang keine Zeit, und mein Traumtagebuch blieb unbeachtet liegen. Als es mir wieder einfiel, waren zwei Wochen vergangen. Beim Lesen gelang es mir, den Traum und das Gefühl, das er hinterlassen hatte, wieder heraufzubeschwören. Aber das Gefühl von Vertrautheit ließ schnell nach, und nach drei Wochen lasen sich meine Notizen, als wären sie nicht von mir. Wer war diese Britta, über die ich geschrieben hatte, als würde ich eine Britta kennen? Meine Traumnotizen sind unbrauchbar.

Meine Freundin hat schon 53 Traumbücher vollgeschrieben und vollgezeichnet, dicke und dünne. Ganz hinten in ihrem Kleiderschrank, unter den Skihosen und den Anoraks, füllen sie ein ganzes Regalbrett. Ich frage meine Freundin, ob sie sich später beim Lesen auch frage, wessen Träume das seien. Sie lese doch hinterher nicht noch mal, was sie sich aufgeschrieben habe, antwortet sie. „Wozu auch?“ Ich zucke mit den Schultern. Ich hatte gedacht, nur aus dem Grund mache man sich überhaupt die Mühe. Aber vielleicht hat sie anderes damit vor? Sie könne die Bücher ihren Kindern vermachen, wenn sie alt sei, schlage ich vor.„ Auf keinen Fall“, erklärt sie, „die Bücher werfe ich rechtzeitig weg.“ Woher sie wissen wolle, wann rechtzeitig ist, frage ich. Sie sagt: „Das träume ich doch vorher.“


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