Selektive Erinnerung

Fünf Wochen hat unsere Reise durch die Slowenien, Kroatien und Bosnien gedauert. Ein Freund in Sarajevo hatte uns geraten, unbedingt noch weiterzufahren bis nach Kotor in Montenegro. Als wir aber in Dubrovnik angekommen waren, fand ich, 1 650 Kilometer Heimweg seien lang genug. Ich wollte nicht noch 180 Kilometer dazu.

In einem kleinen Notizbuch habe ich alle Stationen unserer Reise festgehalten, München: zwei Nächte, Villach: eine, Bled: drei. Hätte ich das Büchlein nicht, wüsste ich heute nicht mehr, wo wir waren. Wir haben Fotos gemacht, natürlich. Auf denen sind aber immer nur die Kinder zu sehen.

Es gab viele schöne Momente auf der Reise. Den Tag an den Plitvicer Seen etwa, als das eiskalte Wasser plötzlich über die Holzstege schwappte und alle die Schuhe ausziehen mussten, ehe wir weiterspazieren konnten. Oder die Holzhexe in dem Lokal in Bled, die zur Freude der Kinder unglaublich laut krächzte, wenn man in die Hände klatschte. Meine Tochter sagt, sie sei das Beste an der Reise gewesen. Ich habe gelesen, dass man sich als Erwachsener an fast nichts mehr aus der Zeit erinnert, in der man jünger als vier Jahre alt war. Unsere Kinder werden sich ganz gewiss an dieses krächzende Monstrum erinnern.

Damit sie sich später einmal auch an den Rest erinnern, erzähle ich ihnen immer wieder von dem neugeborenen Kälbchen und den Seen, den Kiesstränden und was „Guten Morgen“ auf Kroatisch heißt. Inzwischen habe ich ihnen und allen anderen aber so häufig davon erzählt, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich mich an die Reise erinnere oder an das, was ich darüber erzähle. Ich erzähle immer dasselbe, manchmal ist die Geschichte bis hin zur Wortwahl identisch. Die Erinnerung hat sich verselbstständigt.

Je öfter ich über diesen Urlaub spreche, desto mehr verblasst all das, worüber ich nicht spreche. Ich muss im Notizbuch nachsehen, an welchen anderen Orten wir noch waren, weil die langweiligen Tage und die, an denen wir uns im Auto angeschrien oder beim Frühstück nicht miteinander geredet haben, in meiner Geschichte nicht vorkommen. Und ich bereue jetzt auch, nicht bis Montenegro gefahren zu sein. Ich habe mir Bilder von den Stränden dort angesehen. So oft, dass ich mich genau an den Nachmittag in Kotor erinnere, an dem der Wind unseren Sonnenschirm über den ganzen Strand rollte.


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