Mut zum ersten Schritt

Meine Freundin ist Journalistin, sie schreibt gerne und interessiert sich für fast alles. Für die Recherche muss sie häufig Leute anrufen, die sie nicht kennt, Leute treffen, die sie nie gesehen hat, manchmal muss sie sogar Leute auf der Straße ansprechen. „Ich quäle mich so.“ Nun wird sie aber immerzu losgeschickt, wenn jemand auf der Straße befragt werden muss oder ein Interview geführt werden soll. Sie könne so gut mit Menschen, sagt ihre Chefin.

Bevor sie einen Laden betritt, in dem sie mit dem Inhaber über die steigenden Mieten oder über die fallenden Umsätze sprechen soll, schleicht sie eine Ewigkeit herum und macht sich Mut. Sie sagt, sie wisse ja, dass sie nur hineingehen müsse, „Guten Tag“ sagen, lächeln und dem Mann hinter der Theke die Hand geben. Wie von selbst

„Guten Tag, wir sind verabredet, ich komme von der Zeitung.“ Wenn sie diese Wort gesprochen habe, komme der Rest wie von selbst, sagt sie. Dann sitzt sie bei Leuten, fragt, hört zu und erzählt ein bisschen von sich. Hinterher hat sie den Block voller Notizen und den Kopf voller Eindrücke, geht zurück an ihren Schreibtisch und tippt in zwanzig Minuten einen wunderbaren Text.

Am Wochenende waren wir beide im Park. Mein Blick fiel auf eine Frau, deren Rockzipfel hinten in ihrem Unterhosenbund steckte. Ich hatte einen Becher Cola in der Hand und wollte nur schnell austrinken, bevor ich aufstehen und zu ihr hinübergehen würde. „Ach je, schau mal, die Frau, man sieht ihren Hintern“, sagte meine Freundin. „Ja, ja, ich weiß.“ Ich nahm einen großen Schluck. „Ich geh gleich rüber zu ihr.“

Ich weiß ja, dass meine Freundin schon bei dem Gedanken, mit der Frau sprechen zu müssen, Bauchschmerzen bekommt. „Noch ein Schluck“, sagte ich und bevor ich soweit war, war meine Freundin schon aufgestanden und über die Wiese gelaufen. Die Frau lachte, zog ihren Rock zurecht. Meine Freundin setzte sich zu ihr und die Frau bot ihr Erdbeeren an. Die beiden lachten und quatschten, ich fragte mich, ob meine Freundin überhaupt wiederkommen würde.

Sie kam wieder. „Ich wäre schon noch rübergegangen“, sagte ich. „Aber du warst schneller.“ Meine Freundin hatte mir ein paar Erdbeeren mitgebracht. Das versöhnte mich. „Außerdem war es mir peinlich“, sagte ich. „Mir erst auch“, sagte meine Freundin. „Aber weißt du, wenn ich mich erst einmal aufgerafft habe, traue ich mich alles.“


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