Wer spielt mit?

Wir machen das – magazin

Die Reaktionen auf Einschränkungen und Herausforderungen durch die Pandemie sind sehr unterschiedlich. Die Schriftstellerin Dilek Güngör fragt sich, wie Menschen mit Migrationsgeschichte das vergangene Jahr erlebt haben.

Du darfst nicht mitspielen. Einer der Kindergartensätze, die geblieben sind. Jedes Kind kennt ihn, jedes Kind hat ihn zu anderen gesagt. Auch du hast ihn benutzt. Du darfst nicht mitspielen. Noch immer hallt er in dir nach und zieht einen Schwanz anderer Sätze nach sich: Warum verstehst du kein Deutsch? Dein Haar ist so dunkel und schau mal, du hast ja Härchen auf dem Arm. Du kennst unsere Lieder nicht und was hast du da auf deinem Brot?

Es braucht nur ein einzelnes Kind, das dich vom Spiel ausschließt. Ist niemand da, der ihm widerspricht, niemand von den Großen, der sagt, auch du spielst mit, auch dein Haar ist schön, auch deine Lieder singen wir und wir hören dir zu, dann verhaken sich diese Sätze ineinander. Sie setzen sich in deinem Bauch fest und wachsen fortan mit dir mit. Ist niemand da, der alle zum Spielen zusammenruft, werden diese Worte wahr.

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Schweigen bei 39 Grad

Wir machen das – magazin

Mein Vater kann sehr gut im Sitzen schlafen. Ihn stört es nicht, wenn sein Kopf dabei nach hinten kippt und bei jedem Atemzug sachte auf und ab wippt. Sein Mund öffnet sich dann, und er fängt an zu schnarchen. Es ist ein grässlicher Anblick, und nie schaffe ich es, ihm ein Kissen oder ein zusammengerolltes Handtuch in den Nacken zu legen, ohne ihn dabei zu wecken. Er soll nicht ohne Kissen schlafen, ich will nicht, dass er sich den Hals bricht. Sobald ich mit der Handtuchrolle neben ihm stehe, öffnet er die Augen, ich habe ihn nicht einmal berührt, allein meine Nähe hat ihn geweckt. Mit der Hand tastet er nach seinem Sonnenhut. Ein matschgraues Ding, das ihm meine Mutter vom Einkaufen mitgebracht hat. Er trägt den Hut, weil sie ihn dazu zwingt, er soll keinen Hautkrebs auf seiner Glatze kriegen. „Ich bin dann diejenige, die dauernd mit ihm ins Krankenhaus muss“, sagt sie.

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Ich habe es so satt, immer den Kopf einzuziehen

Berliner Zeitung

Ich war im Supermarkt, an einem Vormittag, es war wenig los. Ich räumte meine Einkäufe aufs Band, ich hatte jede Menge Sachen gekauft, und an der Kasse nebenan standen drei, vier Männer an. Sie trugen Handwerkerhosen mit schwarzen Knien, weißt du, ein Knieschutz ist das, glaube ich. Sie kauften sich Brötchen und etwas zu trinken. Ich habe sie auch nur gesehen, weil sie schräg in meinem Blick standen.
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Wie verändert Mutterschaft das Leben von Frauen im Exil?

Wir machen das

Zur Finissage der Ausstellung „Ich habe mich nicht verabschiedet | FRAUEN IM EXIL“ von Heike Steinweg sprach die Schriftstellerin Dilek Güngör am 15. Januar mit Dima Al-Bitar Kalaji, Doha El Jaduh und Nivin Maksour über ihre Erfahrungen als junge Mütter im Exil, über Kindererziehung und das Leben zwischen den Sprachen. Weiterlesen

Glückliche Tage

2014-06-11 09-28-10_0022Seit langer Zeit wieder eine Hochzeitseinladung ganz nach meinem Geschmack: Keine Kleiderordnung, keine Reden, keine Spiele, kein Gottesdienst, keine Geschenkvorschriften. Ein großes Fest am Abend, Essen und Musik und sonst nichts. Wir waren schon auf Burgen am Rhein, auf Hochzeiten, die sich über drei Tage zogen. Standesamt, Kirche, Fest. Eine Hochzeit fand in zwei Ländern statt. Schon Monate vorher trafen sich die Gäste jeden zweiten Sonnabend, um zu überlegen: Wie das Zelt dekoriert werden sollte. Ob auch das Boot geschmückt werden sollte, mit dem man auf die Insel, auf der sich das Zelt befand, übersetzen würde. Was die Brautjungfern an den diversen Terminen tragen würden.

Erstaunlicherweise ist bisher nur eine dieser Ehen auseinandergegangen, nämlich die, bei der das Brautpaar 24 weiße Tauben in den Himmel steigen ließ. Die Tauben kann man im Duo, im 6er-oder 24er Bündel bestellen, geliefert werden sie in einem großen Korb. Wenn das Paar endlich mit Nagelscheren ein Herz in ein großes Laken geschnitten, der Bräutigam die Braut geschultert und hindurchgetragen hat, wird der Korb aufgeklappt und die Vögel steigen in den Himmel, ohne in der Aufregung auf die Braut zu kacken.

Das klingt gehässig und auch neidisch. So als wäre meine Hochzeit nicht der glücklichste Tag meines Lebens gewesen. War er auch nicht, es war ein ganz normaler Mittwoch, wir waren zu zweit auf dem Standesamt und hatten außer den nötigen Papieren nichts dabei. Keine Ringe, keine Trauzeugen, keine Gäste und auch keinen Fotoapparat. Auf der Rückfahrt vom Standesamt wurde mein mir frisch Angetrauter beinahe von einer Autofahrerin umgefahren, die sich auf den Radweg verirrt hatte. Auf den Schreck aß ich zwei Stück Torte und trank Cappuccino, mein Mann sicher Limonade oder einfach nur Wasser. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Danach radelten wir nach Hause, Mittagschlaf machen.

Der nächste potenziell glücklichste Tag wäre die Geburt unseres ersten Kindes gewesen. Nach der Erleichterung, dass das Kind heil heraus war, fragte ich mich, wann so ein Neugeborenes etwas essen muss und wann es einmal so richtig schreit und ob es jemals die Augen aufmachen wird. Dann wurde das zweite Kind geboren, da wusste ich schon wie alles funktioniert. Vielleicht werde ich auf meinem Sterbebett an diese beiden Tage zurückdenken und erkennen, dass das die schönsten Tage meines Lebens waren. Vielleicht darf es auch nur einen geben, dann werde ich mich entscheiden müssen.

Vielleicht steht er mir kurz bevor. Nicht der Tod. Der Tag, der alle vergangenen und kommenden Tage übertrifft. Wir werden die an den möglicherweise glücklichsten Tagen unseres Lebens geborenen Kinder zum möglicherweise glücklichsten Tag im Leben unserer Freunde mitnehmen. Vielleicht klappt’s.

Tücken der Anpassung

2014-06-01 17-01-27_0021Auf der Leiter hinauf zur Rutschbahn steht ein Mädchen und ruft seine Mutter. Die Mutter soll helfen, denn das Kind schafft das letzte Stück nicht. Der Abstand zwischen der letzten Sprosse und dem Anfang der Rutschbahn ist zu hoch. „Dann komm wieder runter“, ruft die Mutter. Das Kind schreit: „Hol mich runter.“

Die Mutter sagt zu mir, wenn das Kind alleine hinaufgekommen sei, werde es doch wohl auch wieder alleine herunterkommen. Das klingt logisch. Oft genug aber habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder sich um Logik nicht scheren. Meine Kinder kommen fast überall alleine hinauf, hinunter oder hinein – aber nur selten kommen sie auch alleine wieder hinunter, hinauf oder heraus.

Die Frau an der Rutsche hat mehr Glück, ihr Kind kann leicht gerettet werden. Sie wird keine Zange brauchen so wie wir, als unser Sohn seinen Fuß zwischen die Metallstäbe in der Rückenlehne eines Gartenstuhles geschoben hatte. Das Mädchen auf der Leiter schreit, hinter ihr warten andere Kinder, die auch anfangen zu rufen, und natürlich gibt es Kinder, die zwar oben stehen und in Ruhe rutschen könnten, aber doch lieber wieder die Leiter hinuntergehen wollen.

Doch ein Wunder geschieht – die Kinder oben machen Platz, vielleicht schieben auch die wartenden Kinder. Jedenfalls schafft das Mädchen doch das letzte Stück, ganz alleine. „Siehst Du“, sagt die Mutter zum Kind und zu mir: „In Frankreich eilen die Mütter ihren Kindern nicht bei jeder Kleinigkeit zur Hilfe. Das machen nur die deutschen Mütter.“

Recht hat sie. Ich an ihrer Stelle wäre sehr schnell und sehr deutsch die Leiter hinaufgestiegen, um dem Kind zu helfen und das Geschrei auf der Leiter zu beenden. Mir gefällt die Einstellung der Frau und ich frage mich, ob ich es zu weit getrieben habe mit der Anpassung. Ich hoffe, dass die Frau bald mit ihrem Kind nach Hause geht. Sie soll nicht mitansehen, wie ich eine halbe Stunde lang mein Kind auf der Schaukel anschubse.

Am selben Abend habe ich eine Verabredung mit einer Malerin aus New York. Als wir an der Theke bezahlen wollen, fragt der Mann an der Bar meine Bekannte, wie es ihr auf ihrer letzten Ausstellung ergangen sei. Ich wusste nicht, dass sie sich kennen. Ich wusste lediglich, dass er auch aus New York ist. „Zusammen oder getrennt?“, fragt er uns, klappt seinen riesigen Kellnergeldbeutel auf und wartet. Erst sieht er mich an, lächelt. Dann schaut er sie an, lächelt.

„Zusammen“ sage ich schnell. Ich weiß ja, dass alle Welt über unser deutsches Auseinanderklamüsern der Rechnung lacht. „Getrennt“, sagt meine Bekannte. „Ha, da hast du dich aber wirklich gut angepasst“, sagt der Typ. Wir zahlen jede ihr Getränk und gehen. Ich hoffe, er hat nicht mich gemeint damit.

Mein Leben mit Führerschein

2014-05-16 11-57-18_0002Seit einundzwanzig Jahren habe ich einen Führerschein, seit sechzehn Jahren fahre ich nicht selbst. Das ist das Schöne an Berlin, man kann sehr viel und weit umherkommen – ohne ein Auto.

Meine Freunde nahmen ihre ersten Fahrstunden, da waren sie keine 18, aber an ihrem Geburtstag wollten sie ihren Führerschein haben. Mit zwanzig war ich die Letzte, die sich in der Fahrschule anmeldete – und dann als Allerletzte fertig, weil ich die Fahrprüfung nicht einmal, sondern viermal machen musste. Dreimal durchfallen, einmal bestehen, macht inklusive autogenes Training bei der Krankenkasse und Fahrschulwechsel viermal. Nachdem ich den Mist hinter mich gebracht hatte, wollte ich gar nicht mehr Auto fahren. Meine Eltern aber fanden, nachdem sie ein Vermögen in meine Fahrstunden gesteckt hätten, wäre es erst recht Verschwendung, wenn der teuerste Führerschein der Familie auf dem Amt vergammelte. Ich sollte viel fahren, um meine Angst loszuwerden, also holte ich meine Eltern von der Arbeit ab oder fuhr in der Nacht meinen besten Freund aus der Kneipe nach Hause, weil ich nur zwei Gläser Orangensaft, er aber sechs Hefeweizen getrunken hatte. Vor dem Haus seiner Eltern stellte ich den Motor ab und hoffte, er würde mich endlich einmal küssen, aber er wollte immer nur reden. Zum Kuss kam es nie. Hätte ich ihn an einem bierseligen Abend geküsst, hätte ich die folgenden zehn Jahre meines Lebens nicht geglaubt, ich wäre immer noch in ihn verliebt.

Nun ist er verheiratet, mit einer anderen und Vater. Und ich – glaube ich jedenfalls – nicht mehr in ihn verliebt. Er hat auch ein Auto, immer schon gehabt, ganz im Gegensatz zu mir. Ich habe noch immer keines, der alte Berlingo, der in unserer Straße steht, gehört meinem Mann. Neulich musste ich mich doch einmal ans Steuer setzen. Wir hielten in der zweiten Reihe, mein Mann sprang aus dem Auto in die Reinigung, hinter mir hupte jemand und machte Zeichen, ich solle ein Stück vorrollen. Die Kinder klammerten sich ängstlich an ihre Kindersitze. Einen Moment lang, wusste ich nicht mehr, welches der drei Pedale die Kupplung war. Der Kerl hinter mir hupte wieder, die Kinder schrien: „Du darfst das nicht.“ Wenigstens heulten sie nicht, man hätte meinen könne, ich wollte sie entführen.

Meine Mutter hat ihren Führerschein gemacht, da war ich zehn und sie 30. Statt stolz auf sie zu sein, schämte ich mich, dass sie in ihrem fortgeschrittenen Alter meinte, einen Führerschein machen zu müssen. Bis dahin hatte ich geglaubt, sie könne gar nicht Autofahren, nicht nur weil sie eine Frau war, sondern, weil sie nicht rauchte.

Ich rauche nicht, fahre nicht Auto, und meine Kinder erzählen jedem, ich würde nicht Autofahren, weil ich den Weg nie fände. Das ist leider wahr. Da hat auch der Führerschein nicht geholfen.

Geschenkte Zeit

Geschenkte Zeit

Bei einem Abendessen habe ich eine Schriftstellerin kennengelernt, die in einem Schloss wohnt. Als Stipendiatin darf sie bis zum Herbst dort bleiben, von ihrem Schreibtisch aus sieht sie in einen Park. Jeden Tag kann sie schreiben, so lange sie will und stundenlang lesen. Genau deshalb hat sie sich dort beworben. Ich fragte, wie viele Stunden am Tag sie schreibt. „Weiß nicht. Meist sitze ich am Schreibtisch und denke nach.“ An guten Tagen komme sie auf zwei Seiten. Oft auf weniger, noch öfter schreibe sie keine einzige. Das seien die schlimmsten Tage, aber schlimm auch die Tage, an denen sie eine Seite schaffe. „Wenn ich nicht schreibe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Das macht mich so fertig, dass ich nicht schreiben kann.“

Zu Hause blicke sie von ihrem Schreibtisch auf eine Wand. Oberhalb ihres Kopfes sind drei Bohrlöcher, darin stecken gelbe Dübel. Einmal hat sie eine Landkarte darüber geklebt. Weil aber das Papier zu dick war, löste es sich ständig an den Ecken, rollte sich ein und fiel am Ende ab. Links von ihrem Schreibtisch steht das Bett, ein paar Schritte hinter ihr der Kleiderschrank.

Wenn sie aus dem Fenster nach rechts schaut, sieht sie die Brandmauer des Nachbarhauses. Im Sommer scheint aber die Sonne darauf und reflektiert das Licht in ihr Schlafarbeitszimmer. Zuhause schafft sie am Tag drei oder vier Seiten, manchmal fünf. Sobald aber ihr Sohn von der Schule kommt, ist es mit der Konzentration vorbei. Ihr Sohn ist zwölf. Der braucht sie nicht zum Popoabwischen, er kann seinen Helikopter allein vom Regal herunternehmen. Er braucht sie aber zum Erzählen, schlechte Laune loswerden oder Hausaufgaben machen. Sie wünscht sich, sie könnte am späten Nachmittag weiter schreiben. Dann aber muss sie zum Supermarkt. Oder mit ihre Tochter zum Augenarzt. Danach kocht sie das Abendessen. Und am Abend schreiben, das konnte sie noch nie.

In ihrem Schloss muss sie nicht auf die Uhr schauen, sie kann erst am Nachmittag anfangen zu schreiben, so lange, bis sie müde wird. Im Schloss braucht niemand Hilfe beim Referat, keiner will ein Abendessen. Sie selbst isst belegte Brötchen oder Joghurt, Bananen und Salzstangen. „Ich bringe aber nichts zustande. Ich sitze am Schreibtisch, schaue in den Park und komme und komme nicht voran.“ Soviel Zeit. Soviel verschenkte Zeit. Sie grämt sich über die Gelegenheit, die vielleicht nicht mehr wiederkommt.

Jemand am Tisch sagt, sie habe einfach zu viel Zeit. Sie solle sich eine Frist setzen. Das hat sie gemacht. Von Zuhause hat sie sich die Steuerunterlagen schicken lassen. Jetzt schreibt sie von neun bis zwei an ihrem Roman. Punkt zwei Uhr klappt sie das Laptop zu und macht sich an die Steuererklärung. Zweimal in der Woche hilft sie am Nachmittag ehrenamtlich Kindern bei den Hausaufgaben. Sie schafft wieder fünf Seiten am Tag.

Barmherzige Cousine

Barmherzige CousineSeit letztem Sommer schreiben meine Cousine und ich uns regelmäßig. Das haben wir zuletzt als Kinder getan, ich auf bunt gemustertem Briefpapier mit passenden Umschlägen. Meine Cousine, die solches Papier nicht hatte, malte mit Kuli Herzen und Blumenranken auf ihr liniertes Papier oder beklebte es mit Tierbildern aus der Zeitung. Meine Briefe begannen immer gleich: Liebe F., wie geht es dir? Geht es dir gut? Ich hoffe bei Allah, dass es dir gut geht. Wenn du wissen möchtest, wie es uns geht, uns geht es gut. Das Wetter ist schlecht. Wie ist das Wetter bei euch? Erst nach diesem Absatz durfte man schreiben, was man wirklich schreiben wollte. Meine Eltern hatten mir erklärt, dass man Briefe so schreibt, meine Cousine begann ihre genauso.

Auf die Idee, ein Wörterbuch zu benutzen, wenn ich nicht wusste, was Schullandheim oder Vokabeltest bedeutete, kam ich damals nicht. Ich fragte meine Mutter, aber die wusste es meist auch nicht, und sagte, wieso schreibst du ihr nicht, wer am Wochenende bei uns zu Besuch gewesen ist. An den Wochenenden besuchten uns immer die gleichen sechs Freunde meiner Eltern, mit ihren Söhnen musste ich Woche für Woche Raumschiff Enterprise spielen. Hatte ich Glück, durfte ich Ohura sein, am Schreibtisch sitzen und so tun, als würde ich tippen. Später fand ich heraus, dass sie Uhura hieß, aber das erfuhr ich von meinem Schulfreund Jörn, nicht von meiner Mutter. Die kannte Ohura natürlich nicht, sagte aber, als ich ihr meinen Brief an meine Cousine zeigte, ich solle das Wort lieber wieder wegradieren. Sie musste es mit Hure verwechselt haben. Was das war, erklärte mir Jörn dann in der vierten Klasse.

Heute gibt es Onlinelexika, da sehe ich nach, was merhametli heißt. Das nämlich sei ich, schreibt meine Cousine in ihrer letzten Mail. Gut. Nett. Ordentlich. Das bin ich. Meistens. Im Wörterbuch fand ich unter dem Substantiv „merhamet“ Erbarmen. Darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Mit wem habe ich Erbarmen? Wie ist jemand, der Erbarmen hat, erbärmlich? Barmherzig? Mitleidsvoll? Gütig? Zur Mutter Gottes würde das passen, nicht zu mir. Die jammernden Kinder barmten sie. Mich barmen jammernde Kinder nicht. Zu meinen jammernden Kindern sage ich hartherzig und lieblos, geht in euer Zimmer und jammert dort, sonst kriege ich einen Nervenzusammenbruch. Kann man sich nicht vorstellen, dass das Maria einmal zum kleinen Jesus gesagt haben könnte.

Merhametli wird ein Wort sein, das man der Pflicht halber in türkische Mails einflicht, um einen elektronischen Brief, den man nicht anfassen kann wie ein 80 Gramm schweres Blatt liniertes Briefpapier, ein wenig gefühlvoller zu machen. Sie sei auch sehr merhametli, antworte ich. Erst nachdem ich die Mail abgeschickt habe, fällt mir ein, dass ich meine Mutter hätte fragen können.

Mein deutscher Pass

2014-06-01 16-58-46_0020Seit ungefähr zwanzig Jahren habe ich einen deutschen Pass. Dafür musste ich den türkischen aufgeben, das heißt, aus der türkischen Staatsbürgerschaft austreten. Das habe ich gemacht. Es hat mich nicht besonders gekümmert, denn das, wofür ich einen Pass brauchte, konnte ich mit dem türkischen schlecht: reisen. Als meine Klasse nach Südfrankreich fuhr, war ich die Einzige, die ein Visum beantragen musste. Die Route führte ein Stück durch die Schweiz, und kurz vor der Grenze fiel uns auf, dass der Bus mit mir nicht einfach durch die Schweiz fahren konnte. Also machte der Fahrer mitsamt den jammernden Mitschülern einen Umweg, aber niemand wollte riskieren, dass ich aussteigen und alleine nach Hause fahren musste.

Inzwischen muss man sich nur noch bedingt für die eine oder andere Staatsbürgerschaft entscheiden. Die Optionspflicht, die seit dem Jahr 2000 gilt, betraf mich aber schon nicht mehr. Kinder, die in Deutschland geboren werden und deren Eltern keinen deutschen Pass haben, bekommen mit der Geburt sowohl die deutsche als auch die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern. Vorausgesetzt, ihre Eltern leben seit acht Jahren in Deutschland. Mit spätestens 23 Jahren allerdings müssen sie sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. 98 Prozent der jungen Leute haben sich im vergangenen Jahr für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Das sind die Zahlen des Innenministeriums.

Nun gibt es einen neuen Gesetzesentwurf zur doppelten Staatsbürgerschaft. In Zukunft sollen sich junge Deutschtürken nicht mehr zwischen der einen oder anderen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Das klingt gut, Bedingungen gibt es aber weiterhin. Man muss mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt haben. Wer nicht auf acht Jahre Aufenthalt kommt, muss sechs Jahre hier zur Schule gegangen sein, einen deutschen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung haben. Wer auch das nicht vorweisen kann, darf seinen deutschen Pass nach dem 23. Geburtstag nicht behalten.

Die Regeln sind klar und eindeutig. Man weiß, was man zu tun hat und womit man rechnen muss, wenn man sich nicht daran hält. Trotzdem, ein Gefühl von Sicherheit vermitteln diese Regeln nicht. Man weiß ja nie, wie das Leben sich entwickelt, und wenn es dumm läuft, verliert man die deutsche Staatsbürgerschaft womöglich wieder.

Ich habe mein halbes Leben lang einen deutschen Pass. Manchmal aber überkommt mich die Angst, so irrational sie auch sein mag, man könnte ihn mir wieder abnehmen, weil ich ja nicht „echt Deutsch“ bin. Es ist die Furcht, dass ich im Grunde mit meinem Namen und meiner Herkunft, aber ohne meinen Pass, immer Türkin bleiben werde – sosehr ich auch dagegen anschreibe.

Geschichten, Geschichten

2014-05-17 19-05-26_0018Wenn ich im Auto lese, wird mir übel. In der S-Bahn schaue ich aus dem Fenster und vergesse den Roman in meiner Hand. Im Bett schlafe ich mit aufgeschlagenem Buch auf dem Bauch ein. In meiner Handtasche kriegen die Taschenbücher Eselsohren. Auf dem Sofa wird mir ohne Wolldecke kalt, mit Decke werde ich schläfrig. Blicke ich dann tatsächlich einmal auf die Seiten und lese, bin ich in Gedanken gleich ganz woanders. Nach anderthalb Seiten, manchmal auch erst viel später, fällt mir auf, dass ich nicht weiß, was ich gerade gelesen habe. Ich lege das Buch aus der Hand, um konzentrierter bei der Sache zu sein, aber dann kommen mir keine Gedanken. Ich brauche das Buch, ich muss hineinsehen und darin stumm alle Wörter lesen, nicht verstehen. Darum kann ich wohl auch keine Geschichten erzählen.

Abends im Bett wollen die Kinder, dass ich ihnen etwas erzähle. Sie haben genau Vorstellungen davon, was sie hören wollen. Fange ich an mit einem kleinen Frosch, der mit dem Bus nach Australien fahren will, um seine Freundin… da unterbrechen sie mich, weil sie eine Ponygeschichte wollen. Oder lieber etwas über ein Kätzchen. Oder über Fohlen. Ich füge mich und arbeite ihre Anweisungen ein. Sie bestimmen, was die Helden tun, wem sie unterwegs begegnen und rufen: „Nein, das soll das Fohlen nicht sagen.“ Beharre ich darauf, eine Geschichte nach meinem Geschmack zu erzählen, sagen sie, diesmal müsse aber auch wirklich etwas passieren in meiner Geschichte. Nicht mehr lange und sie werden meinen Sprachstil kritisieren und den Aufbau, inhaltliche Fehler bemerken sie ohnehin schon. Wird aus Versehen aus dem Einhorn ein Fohlen, protestieren sie. Und weil ich nicht aufhören darf zu erzählen, bevor sie eingeschlafen sind, nehmen die Geschichten kein Ende, auch wenn dem Glück der Katzenfreunde längst nichts mehr hinzuzufügen ist. Die Gutenachtgeschichten ziehen sich und ziehen sich, alles was ihr Neugier wecken könnte, lasse ich weg. Ich lasse die Einhörner ewig über Wiesen und Felder galoppieren, Wasser aus dem Fluss trinken und Blumen fressen, gelbe, rote, weiße, auch lange Halme und Kräuter. Dann legen sie sich unter einen Baum und schlafen und schlafen und schlafen, so lange, bis meine Tochter murmelt, das sei eine furchtbar langweilige Geschichte, sie mache schon mal die Augen zu.

„Erzählt ihr mir doch eine Geschichte“, sage ich. Das wollen sie nicht, sie wollen auch nichts vorgelesen bekommen. Sie wollen zuhören und bestimmen, wo es lang geht. Sie interessieren sich nicht für das, was ich mir für sie ausdenke. So wie ich mich nicht für das interessiere, was andere sich für mich ausdenken. Geschichten sind unser Vehikel, ich brauche sie zum Grübeln, die Kinder, um mich herumzukommandieren.

Heimat – was soll das?

2014-05-16 13-20-55_0008Wie oft wurde ich nach meiner Heimat gefragt und wie viele Male habe ich schon darauf geantwortet? Manchmal ausweichend, manchmal ganz entschieden, weil ich mich gerade für einen bestimmten Ort als Heimat entschieden hatte. Das konnten auch Orte sein, an denen ich nie gelebt habe, die Türkei zum Beispiel. Dann kam mir der Gedanke, dass Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl sein müsse, hervorgerufen durch einen Teller Spaghetti Bolognese, ein Lied, einen Duft, einen Dialekt. Einmal las ich, die Heimat trage man mit sich herum wie die Schildkröte ihren Panzer. Das Bild gefiel mir gut und für eine Zeit antwortete ich allen, die mich nach meiner Heimat fragten mit der Schildkröte.

Vor einigen Tagen habe ich meine Großmutter in der Türkei besucht. Sie ist 97 und schon sehr schwach. Die ganze Familie hatte sich um ihr Bett versammelt, es kamen allerlei Leute aus dem Dorf, um sich von ihr zu verabschieden. Die Kinder rannten herein und hinaus, um sich Geld für Süßigkeiten zu erbetteln. Einer kochte Tee, ein anderer berichtete jemandem am Telefon, dass Großmutter eine Schale Joghurt gegessen habe. Ich fragte mich, ob meine Großmutter genug Ruhe hatte. „Man lässt Sterbende nicht allein“, sagte eine Verwandte und ich dachte an die, die allein in Altenheimen und Krankenhäusern sterben müssen. Ich wünsche mir weder in einem solchen Trubel zu sterben wie meine Großmutter, noch in der Einsamkeit eines Krankenhauszimmers.

Im Raum nebenan saßen die Männer, sie waren mit ganz anderen Themen beschäftigt. Einer schwärmte vom wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei, ein anderer vom landschaftlichen und kulturellen Reichtum, die anderen stimmten zu. Nie käme es mir in den Sinn, so von Deutschland zu schwärmen und zu prahlen. „Weil Deutschland nicht deine Heimat ist“, sagten sie.

Ich fühlte mich fremd und gleichzeitig waren mir die Stimmen, die Schwärze ihrer weiten Schalwarhosen, die an den Fersen heruntergetretenen Lederschuhe und das Muster der Vorhänge so vertraut. Vertrautheit und Fremdheit gehen Hand in Hand und ich fragte mich, was das denn sein solle, diese Heimat. Ich saß inmitten meiner Familie und sah ich mich inmitten meiner Familie auf dem Polster sitzen, so, als säße ein zweites Ich neben mir. Das mit der Schildkröte stimmte nicht. Ich war noch nicht einmal in mir selbst beheimatet.

Als ich wieder zurück war in Berlin, passierte, was immer passiert, wenn ich ein paar Tage weg war. Ich brauche mindestens eine Nacht, um mich wieder an meine Möbel, den Geruch meiner Sachen, den Blick aus dem Fenster zu gewöhnen. Das zweite Ich, das neben mir steht und alles betrachtet, verlässt mich auch in Berlin nicht. Ich habe keine Heimat, aber das bedrückt mich wenig. Ein Zuhause brauche ich, eine Heimat nicht.