Geschenkte Zeit

Geschenkte Zeit

Bei einem Abendessen habe ich eine Schriftstellerin kennengelernt, die in einem Schloss wohnt. Als Stipendiatin darf sie bis zum Herbst dort bleiben, von ihrem Schreibtisch aus sieht sie in einen Park. Jeden Tag kann sie schreiben, so lange sie will und stundenlang lesen. Genau deshalb hat sie sich dort beworben. Ich fragte, wie viele Stunden am Tag sie schreibt. „Weiß nicht. Meist sitze ich am Schreibtisch und denke nach.“ An guten Tagen komme sie auf zwei Seiten. Oft auf weniger, noch öfter schreibe sie keine einzige. Das seien die schlimmsten Tage, aber schlimm auch die Tage, an denen sie eine Seite schaffe. „Wenn ich nicht schreibe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Das macht mich so fertig, dass ich nicht schreiben kann.“

Zu Hause blicke sie von ihrem Schreibtisch auf eine Wand. Oberhalb ihres Kopfes sind drei Bohrlöcher, darin stecken gelbe Dübel. Einmal hat sie eine Landkarte darüber geklebt. Weil aber das Papier zu dick war, löste es sich ständig an den Ecken, rollte sich ein und fiel am Ende ab. Links von ihrem Schreibtisch steht das Bett, ein paar Schritte hinter ihr der Kleiderschrank.

Wenn sie aus dem Fenster nach rechts schaut, sieht sie die Brandmauer des Nachbarhauses. Im Sommer scheint aber die Sonne darauf und reflektiert das Licht in ihr Schlafarbeitszimmer. Zuhause schafft sie am Tag drei oder vier Seiten, manchmal fünf. Sobald aber ihr Sohn von der Schule kommt, ist es mit der Konzentration vorbei. Ihr Sohn ist zwölf. Der braucht sie nicht zum Popoabwischen, er kann seinen Helikopter allein vom Regal herunternehmen. Er braucht sie aber zum Erzählen, schlechte Laune loswerden oder Hausaufgaben machen. Sie wünscht sich, sie könnte am späten Nachmittag weiter schreiben. Dann aber muss sie zum Supermarkt. Oder mit ihre Tochter zum Augenarzt. Danach kocht sie das Abendessen. Und am Abend schreiben, das konnte sie noch nie.

In ihrem Schloss muss sie nicht auf die Uhr schauen, sie kann erst am Nachmittag anfangen zu schreiben, so lange, bis sie müde wird. Im Schloss braucht niemand Hilfe beim Referat, keiner will ein Abendessen. Sie selbst isst belegte Brötchen oder Joghurt, Bananen und Salzstangen. „Ich bringe aber nichts zustande. Ich sitze am Schreibtisch, schaue in den Park und komme und komme nicht voran.“ Soviel Zeit. Soviel verschenkte Zeit. Sie grämt sich über die Gelegenheit, die vielleicht nicht mehr wiederkommt.

Jemand am Tisch sagt, sie habe einfach zu viel Zeit. Sie solle sich eine Frist setzen. Das hat sie gemacht. Von Zuhause hat sie sich die Steuerunterlagen schicken lassen. Jetzt schreibt sie von neun bis zwei an ihrem Roman. Punkt zwei Uhr klappt sie das Laptop zu und macht sich an die Steuererklärung. Zweimal in der Woche hilft sie am Nachmittag ehrenamtlich Kindern bei den Hausaufgaben. Sie schafft wieder fünf Seiten am Tag.


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