Eine Bank für eine Pobacke

2014-07-11 18-18-43_0028Mit 40 steht man mit einem Bein schon im Grab“, sagte mein Vater früher. Da meine Eltern recht früh Eltern geworden sind, kann ich mich gut an diesen Satz erinnern und auch daran, dass der 40. Geburtstag meines Vaters noch in weiter Zukunft lag. Inzwischen ist er 66, und er steht noch immer mit einem Bein im Grab. Statt bei der Aussicht auf seinen nahen Tod noch rasch irgendetwas Besonderes erleben zu wollen, arrangiert er sich seit 26 Jahren mit seinem Ende.

Wenn man schon so halb gestorben ist, lohnt sich vieles nicht mehr. Eigentlich lohnt sich gar nichts mehr. Das ist die Erkenntnis, die er daraus gezogen hat. Wenn man tot ist, ist alles vorbei – für den jedenfalls, der gestorben ist. Es kann einem gleich sein, ob man einmal in Australien war, ob man sich morgens und abends die Zähne geputzt hat oder freundlich zu anderen Menschen war. Wie sich die anderen an einen erinnern, interessiert die wenigsten Toten.

Nun lässt sich mein Vater nicht gehen, und die meisten Menschen würden ihn auch in halbverstorbenem Zustand als freundlich bezeichnen. Aber jetzt noch etwas zu tun, was er noch nie getan hat, die Zeit vor dem Ende auszukosten, das käme ihm nicht in den Sinn. Ich weiß nicht, wie alt mein Vater meint, dass er wird. 70? 80? Gar 90? „70!“, ruft er, stöhnt und tut so, als sei das völlig abwegig. „Das ist in vier Jahren“, sage ich. „Wir wissen doch nicht einmal, was morgen ist“, sagt er. Ich weiß, was morgen ist. Mein Vater wird mir helfen, den alten Schrank im Flur zu fotografieren und ihn dann im Internet zum Verkauf anzubieten. Den Platz im Flur braucht meine Mutter für eine Bank. Sie sagt, sie wolle sich hinsetzen, wenn sie sich die Schuhe zubindet. „Wir brauchen doch keine Bank“, sagt mein Vater. „Du nicht“, erwidert meine Mutter. „Du bist ja im Geiste schon eine ganze Weile tot, aber ich brauche eine.“

Es gefällt ihm nicht, wenn man sagt, er sei schon lange tot. Ist er ja auch nicht. Selbst wenn er mit beiden Beinen im Grab stände, tot wäre er dann noch immer nicht. „Tot ist man erst, wenn man tot ist“, sagt er. „Wenn man mit einem Bein im Grab steht, heißt das nicht, dass man tot ist.“ Meine Mutter hat es aufgeben, sich mit ihm darüber zu streiten, wie viel vom Körper im Grab sein muss, bis man tot ist. Einmal sagte sie, wenn er mit 81 immer noch am Leben sei, habe er mehr Zeit seines Lebens halb im Grab als mit beiden Beinen im Leben gestanden. „Keine Sorge, so weit wird es nicht kommen“, sagte er.

„Ich kaufe jetzt eine Bank. Warum frage ich dich überhaupt?“, sagt sie. Es werde schließlich Zeit, dass sie ihre Entscheidungen alleine fälle. Je früher sie damit anfange, desto besser sei es. „Du darfst dich zum Warten gerne auf die Bank setzen, und wenn es dir lieber ist, dann auch gerne nur mit einer Pobacke.“


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