Die Gefahr der Bananenschale

2014-09-19 13-00-26_0055Auf einer Bananenschale auszurutschen und sich dabei das Genick zu brechen, war die Gefahr meiner Kindheit. In der Schule, im Hort, in Kinderbüchern, immerzu wurden wir ermahnt, keine Bananenschalen auf die Straße zu werfen. Je älter wir wurden, desto seltener tauchte die gefährliche Bananenschale auf. Was niemanden verwunderte, denn abgesehen von Comicfiguren habe ich nie jemanden auf einer Bananenschale ausrutschen sehen.

Dann fing man an, uns vor dem Erfrierungstod zu warnen. Wer sich betrinkt, der friert draußen in der Kälte nicht, aber er wird müde, legt sich in den Schnee und merkt nicht, wie er erfriert. Also mahnte man uns, nicht zu viel zu trinken, und wenn doch, uns hinterher nicht in den Schnee zu legen und einzuschlafen. Dabei könnte das eigentlich ein angenehmes Sterben sein. Besser jedenfalls, als mit dem Kopf auf dem Gehweg aufzuschlagen.

Nachdem die Bananenschale vergessen war und mich niemand mehr vor dem alkoholisierten Erfrierungstod warnte, war der sichere Heimweg dran. Wenn ich mit 16 abends allein nach Hause kam, sagte mir meine Mutter vorher, mit welchem Bus ich fahren sollte (23.12 Uhr), auf welchen Platz ich mich im Bus setzen sollte (vorne beim Fahrer), welchen Weg ich von der Haltestelle aus nehmen sollte (den beleuchteten), und dass mich mein Freund Peter doch bitte bis nach Hause begleiten solle. Das tat er zum Glück selten, denn er hatte im Dunklen mehr Angst als ich. Das erzählte ich meiner Mutter nicht.

Wenn wir die von Hecken gesäumte Abkürzung hinter der Kirche nahmen, drehte Peter sich alle drei Schritte um, weil er etwas zu hören glaubte. Das war schlimmer als die Dunkelheit. Fürchten musste man sich auf diesem Weg ansonsten nicht, es lagen dort weder Bananenschalen noch Tote, nicht einmal im Winter. Die Toten lagen hinter den Hecken auf dem Friedhof. Selbst meine Mutter, die mich sonst vor allem warnte, sagte, ich müsse vor den Toten keine Angst haben, denn sie seien ja tot. „Fürchten musst du dich vor den Lebenden“, sagte sie. Abends, auf dem Heimweg, war Peter der einzige Lebende in meiner Nähe. Ich fürchtete mich nicht vor ihm, aber er machte mich nervös, weil er sich doch ständig umdrehte. Außerdem hatte er Angst, allein den Weg bis zum Haus seiner Eltern weiterzugehen. Oft begleitete ich ihn.

Dann machte ich den Führerschein, und zumindest dieses Problem löste sich. Aber neue kamen hinzu. Meine Mutter nannte mir, sobald ich den Autoschlüssel vom Haken nahm, die sicheren Parkplätze in der Innenstadt, warnte mich vor Alkohol am Steuer und erklärte mir, dass sie sich auf den acht Schritten zwischen Garage und Haustür sicherer fühle, wenn sie die einzelnen Schlüssel zwischen die Finger schiebe und die Hand dann zur Faust balle. „Nein“, sagte ich. „Davor habe ich Angst.“


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