Kategorie-Archiv: Kolumne aus der Berliner Zeitung

Mut zum ersten Schritt

Meine Freundin ist Journalistin, sie schreibt gerne und interessiert sich für fast alles. Für die Recherche muss sie häufig Leute anrufen, die sie nicht kennt, Leute treffen, die sie nie gesehen hat, manchmal muss sie sogar Leute auf der Straße ansprechen. „Ich quäle mich so.“ Nun wird sie aber immerzu losgeschickt, wenn jemand auf der Straße befragt werden muss oder ein Interview geführt werden soll. Sie könne so gut mit Menschen, sagt ihre Chefin.

Bevor sie einen Laden betritt, in dem sie mit dem Inhaber über die steigenden Mieten oder über die fallenden Umsätze sprechen soll, schleicht sie eine Ewigkeit herum und macht sich Mut. Sie sagt, sie wisse ja, dass sie nur hineingehen müsse, „Guten Tag“ sagen, lächeln und dem Mann hinter der Theke die Hand geben. Wie von selbst

„Guten Tag, wir sind verabredet, ich komme von der Zeitung.“ Wenn sie diese Wort gesprochen habe, komme der Rest wie von selbst, sagt sie. Dann sitzt sie bei Leuten, fragt, hört zu und erzählt ein bisschen von sich. Hinterher hat sie den Block voller Notizen und den Kopf voller Eindrücke, geht zurück an ihren Schreibtisch und tippt in zwanzig Minuten einen wunderbaren Text.

Am Wochenende waren wir beide im Park. Mein Blick fiel auf eine Frau, deren Rockzipfel hinten in ihrem Unterhosenbund steckte. Ich hatte einen Becher Cola in der Hand und wollte nur schnell austrinken, bevor ich aufstehen und zu ihr hinübergehen würde. „Ach je, schau mal, die Frau, man sieht ihren Hintern“, sagte meine Freundin. „Ja, ja, ich weiß.“ Ich nahm einen großen Schluck. „Ich geh gleich rüber zu ihr.“

Ich weiß ja, dass meine Freundin schon bei dem Gedanken, mit der Frau sprechen zu müssen, Bauchschmerzen bekommt. „Noch ein Schluck“, sagte ich und bevor ich soweit war, war meine Freundin schon aufgestanden und über die Wiese gelaufen. Die Frau lachte, zog ihren Rock zurecht. Meine Freundin setzte sich zu ihr und die Frau bot ihr Erdbeeren an. Die beiden lachten und quatschten, ich fragte mich, ob meine Freundin überhaupt wiederkommen würde.

Sie kam wieder. „Ich wäre schon noch rübergegangen“, sagte ich. „Aber du warst schneller.“ Meine Freundin hatte mir ein paar Erdbeeren mitgebracht. Das versöhnte mich. „Außerdem war es mir peinlich“, sagte ich. „Mir erst auch“, sagte meine Freundin. „Aber weißt du, wenn ich mich erst einmal aufgerafft habe, traue ich mich alles.“

Heimat zu Hause

Das Wort Heimat weckt keine angenehmen Gefühle in mir. Einer Nachbarin – sie wird schon lange tot sein, sie war damals recht alt und ich noch nicht in der Schule – rief uns einmal aus ihrer Wohnungstür zu, wir sollten uns in unsere Heimat scheren, wenn es uns hier nicht gefalle. Ich weiß nicht mehr, was uns damals nicht gefallen hatte. Aber seither gehe ich innerlich in Deckung, wenn mir jemand mit Heimat kommt.

Was soll das sein, Heimat? Wer braucht so etwas? Ich spreche lieber von meinem Zuhause. Zuhause bin ich in Berlin, zuhause bin ich im Haus meiner Eltern in Schwäbisch Gmünd, obwohl ich in diesem Haus nie gewohnt und nie ein Zimmer gehabt habe, zuhause bin ich auch in der Ferienwohnung in Kroatien, die ich für vierzehn Tage gemietet habe. Für diese zwei Wochen ist sie mein Zuhause. Voll und ganz. Ich mag das Wort zuhause, es ist alltäglich, es ist nüchtern und es ist nicht derart gefühlsbeladen. Ein Zuhause kann wechseln und es hat auch nichts mit der Herkunft zu tun.

Das türkische Wort für Heimat heißt memleket. Es wiegt noch viel schwerer als die deutsche Entsprechung, es ist voller Wehmut und Verlust, voller Sehnsucht und Verklärung, Trauer und Nostalgie und voll von all dem, was einem das Herz schwer macht. Das Wort selbst kann nichts dafür. Das Erdrückende kommt davon, dass die Freunde meiner Eltern so wehmütig über ihr memleket sprachen, weil es auf den Musikkassetten im Auto meiner Tante so sehnsüchtig besungen wurde, weil jeder so tat, als sei sein memleket das Beste aller memlekets.

Und wenn jemand wissen wollte, wo denn mein memleket sei, dann holte ich tief Luft und setzte an zu meiner langen Erklärung: Dass ich in Deutschland geboren sei und auch meine Eltern hier lebten, meine Großeltern aber, die lebten in einem Dorf bei Gaziantep im Südosten der Türkei. „Aha“, raunten die Leute dann und nickten wissend.

Wussten sie etwas über Gaziantep oder Schwäbisch Gmünd, das ich nicht wusste? Würde gleich jemand anfangen zu seufzen? Oder würde man mich fragen, wann ich wieder in meine Heimat ginge? Wohin hatte man mich sortiert?

Ich frage inzwischen nicht mehr, wo ich zuhause bin, sondern wann. Ich glaube, es ist der Moment, kurz vor dem Einschlafen, wenn ich noch einmal kurz wach werde und merke, dass ich wohl eben schon weggedämmert sein muss, um dann schließlich einzuschlafen.