Kategorie-Archiv: Kolumne aus der Berliner Zeitung

Zweite Sprachspur

2014-08-21 11-45-40_0038In unserer Kindergartengruppe ist seit Kurzem ein kleines Mädchen aus Kasachstan. Ihre Mutter spricht und versteht noch wenig Deutsch, darum brachte sie zum letzten Elternabend ihren älteren Sohn als Dolmetscher mit. Als man uns Elternhinterher den neuen Turnraum zeigte, schob ich mich zu ihm durch und sagte, ich hätte früher auch oft für meine Eltern gedolmetscht. Er sollte ihm nicht peinlich sein, dass seine Mutter wenig Deutsch verstand und er als einziger Teenager inmitten lauter Erwachsenen sitzen und ihr ins Ohr flüstern musste.

Es ist nicht wahr, dass ich als Kind für meine Eltern dolmetschen musste. Ich weigerte mich. Auch das ist nicht ganz richtig. Ich habe nie gesagt, ich täte es nicht, sondern immer nur stumm gehofft, dass es nie soweit kommen würde. Es kam auch nie soweit, weil meine Eltern damals schon einigermaßen Deutsch sprachen.

Später habe ich das Übersetzen studiert. Im Unterschied zum Dolmetschen übertragen Übersetzer geschriebene Texte in eine andere Sprache, der Dolmetscher überträgt Gesprochenes. Doch eine gute Übersetzerin bin ich nie geworden. Aus einem englischen Text wurde, nachdem er durch mein Hirn gegangen war, kein deutscher Text. Es kam ein mit deutschen Wörtern geschriebener englischer Text dabei heraus. Ich hatte schon längst einen anderen Beruf ergriffen, als mir langsam schwante, wie eine gute Übersetzung aussehen könnte. Dass man sich frei machen musste vom englischen Text, wenn man einen deutschen Text schreiben wollte. Dass man erst einmal deutsch denken musste, um etwas Deutsches zu produzieren.

Eigentlich hätte ich das wissen können. Ich habe ja schon immer übersetzt, wenn auch nicht für meine Eltern, öffentlich, vor anderen, aber immer nebenher im Kopf. Auf Türkisch, zum Beispiel, kann man sagen: „Wir sitzen mit meiner Mutter auf dem Sofa.“ Gemeint ist, meine Mutter und ich, wir sitzen auf dem Sofa. Der Unterschied ist – betrachtet man nur die Wörter – gering, aber wer auf Deutsch „Wir sitzen mit meiner Mutter auf dem Sofa“ sagt, verschweigt doch mindestens einen Dritten. So lief schon seit jeher beim Sprechen und Hören ein Parallelprogramm in meinem Kopf ab, eine zweite Sprachspur, die aber nie richtig, sondern immer nur schlecht übersetzt klang.

Die kasachische Mutter aus dem Kindergarten spricht Englisch, ich hörte sie im Flur mit der Erzieherin sprechen. Der Junge hat für seine Mutter gedolmetscht, damit die Gruppe nicht gezwungen war, den Elternabend auf Englisch abzuhalten. Am liebsten würde ich zu der Frau gehen und mich entschuldigen, weil ich ihren Sohn bemitleidet habe, wo es doch gar keinen Grund dazu gab. Aber dann lächle ich ihr nur zu und sage nichts. Eins muss ich mir merken: Ein dolmetschendes Kind ist nicht immer ein armes Würstchen.

Guck mal, was ich kann

Für eine Wand im Hauseingang meiner Elternwerde ich ein Bild malen. Die Nashörner, die dort hängen habe ich vor Jahren gemalt und schon als das Bild gerahmt an die Wand kam, dachte ich, richtig gut sind sie nicht geworden. Den Rahmen hatte mein Vater in seiner Werkstatt aus dünnen Leisten geleimt, die Ecken sind nicht passgenau, man sieht einen Spalt und darin den Leim, getrocknet zu einem durchsichtigen Klumpen.

Meine Mutter sagt, sie möge das Bild, nichts anderes habe ich erwartet. Sie betrachtet mich noch immer mit dem Blick einer Mutter im Wochenbett, die ihr Baby nicht nur wunderschön findet sondern noch in Begeisterung darüber ausbricht, dass es schon das Fäustchen zum Mund führen kann. Mein Vater sagt, er sehe das Bild seit Jahren nicht mehr. Für ihn ist es mit dem Rauputz an der Wand verschmolzen. Auch das ist nicht überraschend, mein Vater sieht gut und sieht dennoch nichts. Wenn ich ihn durch die Zimmer gehen sehe, erkenne ich an seinem Gesichtsausdruck, dass er wieder irgendetwas sucht. Manchmal lasse ich ihn suchen. Er soll einmal etwas ganz alleine finden. Wie groß muss die Freude sein, wenn er die Zeitschrift, die er eben noch in der Hand hatte, ohne fremde Hilfe wiederfände. Verrate ich ihm, dass sie neben der Kaffeemaschine liegt, geht er hin, nimmt sie sich und verschwindet in seiner Werkstatt, ohne darüber zu staunen, was ich alles kann.

Ich habe das Bild im Eingang abgenommen und in den Keller gebracht. Mein Vater fragt: „Was ist denn hier passiert?“ Fehlen ihm plötzlich die Nashörner? „Welche Nashörner?“ Egal, ich hätte ihn gar nicht fragen brauchen. Ihn stört, dass die Wand plötzlich so kahl ist.

Im Baumarkt lasse ich mir eine dünne Sperrholzplatte zuschneiden. Haben die Seitenlängen ein Verhältnis von 1:3 zueinander, tut das dem Auge gut, aber als ich beim Zuschnitt endlich an der Reihe bin, kann ich so schnell nicht im Kopf ausrechnen, wie das mit dem Verhältnis 1:3 geht, wenn eine Seite 1,50 Meter werden soll. 1,20 Meter sage ich zum Mann an der Säge, und hoffe, dass es schon hinkommen wird.

Wenn man selbst nur knapp 1,60 groß ist, lässt sich ein knapp zwei Quadratmeter großes Brett schlecht vor der Brust tragen. Ich lege es wie ein Segel auf den Kopf und sage mir, dass meine Urgroßmutter sicherlich so den Wassereimer von der Quelle nach Hause getragen hat, als mich der Wind fast vom Boden hebt. Schließlich stelle ich es auf meinen Schuh, halte es links und rechts fest und humple Schritt für Schritt über den Parkplatz.

Als mein Vater nach Hause kommt, ist die Sperrholzplatte weiß grundiert und lehnt zum Trocknen an der Wand. „Ist das neu?“, fragt er. „Ja. Gefällt’s dir?“ Er stutzt nicht einmal. „Ist nicht schlecht geworden“, sagt er. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Im Grunde seines Herzens findet er toll, was ich alles kann.

Plötzlich Lust auf Weihachten

Wir saßen um den Küchentisch meiner Freundin herum und aßen bei karger Beleuchtung die Kuchenreste des letzten Kindergeburtstags. Die beiden Lampen über dem Tisch hatten den Geist aufgegeben, selbst dem Heimwerker ihres Vertrauens war es nicht gelungen, sie zu reparieren, also zündeten wir Kerzen an. Die warfen ihr warmes Licht auf die weinroten Polster der Sitzbank, es roch nach Kaffee und Mandarinenschalen, und mit einem Mal war mir furchtbar nach Weihnachten. Nach einem Baum und Plätzchen, nach roten Kerzen und Strohsternen. Wo doch noch nirgends Weihnachten ist, nur in der Werbung und am Eingang des Supermarktes, links, beim Gemüse.

Statt in Unruhe und Aufregung zu verfallen wie sonst, wenn mir ein besonders guter Einfall kommt, habe ich mich sofort geschämt. Wie komme gerade ich dazu, mich nach Weihnachten zu sehnen? Meine Familie hatte es doch generationenlang nicht mit Jesus und den Heiligen Drei Königen und feierte deshalb nur halbherzig. Und wir, als neue Kleinfamilie, feiern ebenfalls kein Weihnachten, was die Großeltern väterlicherseits allerdings wenig kümmert. Sie schenken so viel, dass es nicht auffällt, dass Mutter und Vater und der mütterlicherseits aus Anatolien stammende Teil der Familie nichts gekauft haben.

Bei uns gibt es lediglich einen selbst gebastelten Baum aus Karton. Ich glaube, unser erstes Gitterbettchen war in dieser Pappe verpackt. Diesen Baum stellen wir Jahr für Jahr auf, selbst die Kerzen und die Kugeln sind aus Karton. Sind die Feiertage herum, schieben wir den Baum flach zusammengefaltet in die Lücke zwischen Kinderzimmerwand und Schrank.

Ich horche in mich hinein und versuche zu ergründen, woher plötzlich meine Weihnachtsnostalgie kommt. Ich horche und höre nichts, aber ich spüre etwas. Das lässt sich so in Worte fassen: Ich will halt. Als toleranter Mensch sollte man sich erlauben, Lust auf Dinge zu haben, auf die man Lust hat. Selbst wenn es sich um Weihnachtsbäume handelt. Man erlaubt sich doch auch sonst allerhand. Tütenweise Chips mit Chiligeschmack. Hohe Schuhe, in denen man nicht gehen kann. Eine Gitarre, auf der man nicht spielt, und ein Computerspiel, das man sehr oft spielt. Bücher, die sich neben dem Bett stapeln und immer wieder und nie weiter als bis Seite 46 gelesen werden.

Meine Freundin sagt:„ Mein Gott, deine Sorgen hätte ich gerne.“ Besorgt frage ich, was denn ihre Sorgen seien, und beschimpfe mich stumm für meine Oberflächlichkeit. Sie denkt nach, dann sagt sie, sie habe gerade keine Sorgen. Aber sicherlich würden ihr welche einfallen, sobald ich aus der Tür sei. Als ich in der Tür stehe, frage ich sie, ob ihr nun etwas eingefallen ist. „Ja“, antwortet sie. „Du warst meine einzige Freundin, für die ich nie ein Weihnachtsgeschenk besorgen musste. Und jetzt das.“

Die Gefahr der Bananenschale

2014-09-19 13-00-26_0055Auf einer Bananenschale auszurutschen und sich dabei das Genick zu brechen, war die Gefahr meiner Kindheit. In der Schule, im Hort, in Kinderbüchern, immerzu wurden wir ermahnt, keine Bananenschalen auf die Straße zu werfen. Je älter wir wurden, desto seltener tauchte die gefährliche Bananenschale auf. Was niemanden verwunderte, denn abgesehen von Comicfiguren habe ich nie jemanden auf einer Bananenschale ausrutschen sehen.

Dann fing man an, uns vor dem Erfrierungstod zu warnen. Wer sich betrinkt, der friert draußen in der Kälte nicht, aber er wird müde, legt sich in den Schnee und merkt nicht, wie er erfriert. Also mahnte man uns, nicht zu viel zu trinken, und wenn doch, uns hinterher nicht in den Schnee zu legen und einzuschlafen. Dabei könnte das eigentlich ein angenehmes Sterben sein. Besser jedenfalls, als mit dem Kopf auf dem Gehweg aufzuschlagen.

Nachdem die Bananenschale vergessen war und mich niemand mehr vor dem alkoholisierten Erfrierungstod warnte, war der sichere Heimweg dran. Wenn ich mit 16 abends allein nach Hause kam, sagte mir meine Mutter vorher, mit welchem Bus ich fahren sollte (23.12 Uhr), auf welchen Platz ich mich im Bus setzen sollte (vorne beim Fahrer), welchen Weg ich von der Haltestelle aus nehmen sollte (den beleuchteten), und dass mich mein Freund Peter doch bitte bis nach Hause begleiten solle. Das tat er zum Glück selten, denn er hatte im Dunklen mehr Angst als ich. Das erzählte ich meiner Mutter nicht.

Wenn wir die von Hecken gesäumte Abkürzung hinter der Kirche nahmen, drehte Peter sich alle drei Schritte um, weil er etwas zu hören glaubte. Das war schlimmer als die Dunkelheit. Fürchten musste man sich auf diesem Weg ansonsten nicht, es lagen dort weder Bananenschalen noch Tote, nicht einmal im Winter. Die Toten lagen hinter den Hecken auf dem Friedhof. Selbst meine Mutter, die mich sonst vor allem warnte, sagte, ich müsse vor den Toten keine Angst haben, denn sie seien ja tot. „Fürchten musst du dich vor den Lebenden“, sagte sie. Abends, auf dem Heimweg, war Peter der einzige Lebende in meiner Nähe. Ich fürchtete mich nicht vor ihm, aber er machte mich nervös, weil er sich doch ständig umdrehte. Außerdem hatte er Angst, allein den Weg bis zum Haus seiner Eltern weiterzugehen. Oft begleitete ich ihn.

Dann machte ich den Führerschein, und zumindest dieses Problem löste sich. Aber neue kamen hinzu. Meine Mutter nannte mir, sobald ich den Autoschlüssel vom Haken nahm, die sicheren Parkplätze in der Innenstadt, warnte mich vor Alkohol am Steuer und erklärte mir, dass sie sich auf den acht Schritten zwischen Garage und Haustür sicherer fühle, wenn sie die einzelnen Schlüssel zwischen die Finger schiebe und die Hand dann zur Faust balle. „Nein“, sagte ich. „Davor habe ich Angst.“

Von Schuhen und Liebe

Mein Nachbar trägt teure, rahmengenähte Schuhe. Die hat er sich in Wien gekauft. Ich wusste, dass rahmengenähte Schuhe teuer sind, nicht aber, was rahmengenäht bedeutet. Nun weiß ich, dass die Sohle eines solchen Schuhes austauschbar ist. Das Oberteil und die Innensohle werden mit einem Lederband, das um den Schuh läuft, zusammengenäht. Dieses Band – der Rahmen – wird dann mit einer weiteren Naht an die Sohle genäht. Mein Nachbar sagt, seine Schuhe seien zwar teuer, sein letztes Paar aber habe neun Jahre gehalten. „Das kann man von deinen bestimmt nicht sagen“, sagt er.

Ich versuche, mich zu erinnern, wie lange ich meine sicher nicht rahmengenähten Stiefel eigentlich schon habe. Es sind drei – nein, sogar vier Jahre. Anfangs habe ich sie allerdings nicht so oft getragen, weil sie ja neu waren. Mich überrascht es, dass sie schon so alt sind. Für mich sind diese Stiefel immer noch die neuen. Es gab hinterher kein weiteres Paar, so sind sie die guten Stiefel geblieben.

Ich habe viele gute Kleidungsstücke, sie sind weder teuer noch besonders, aber ich habe sie mir eine ganze Weile lang aufgespart als „den guten Rock“ oder die „gute Strickjacke“ und sie nie benutzt. So wie Erwin und Irene, unsere Nachbarn aus meiner Kindheit, nie in ihrer guten Stube gesessen haben. Die war ein muffiger, dunkler Raum mit dunklen Möbeln und einem Kachelofen, in dem nie Feuer gemacht wurde. Ich konnte mir nie erklären, was an der guten Stube eigentlich gut sein sollte.

Rahmengenähte Schuhe werden immer bequemer und schöner, je länger man sie trägt, sagt der Nachbar. Er teilt den Preis seiner Schuhe durch neun und rechnet aus, dass sein Paar – so gesehen – günstiger ist als meine „guten Stiefel“.

Dass Dinge mit der Zeit schöner werden, sagt man auch über Lederjacken und über die Liebe. Die Lederjacken, die in der Änderungsschneiderei meiner Mutter hängen, glänzen so speckig, dass man sie nicht anfassen möchte. Ihre Besitzer wollen aber lieber den kaputten Reißverschluss oder das zerrissene Innenfutter austauschen lassen, statt sich eine neue zu kaufen.

Bei der Liebe habe ich den Verdacht, dass es ihr nicht wie dem rahmengenähten Schuh ergeht, sondern wie der speckigen Lederjacke. Alle sagen, die Verliebtheit verfliege, das Begehren erlösche, doch dafür wüchsen Vertrautheit und Nähe, was ja allgemein als erstrebenswerter gilt als bloße Verliebtheit. Oft bedenkt man aber nicht, dass Verliebtheit verdammt lange braucht, um zu Liebe heranzureifen, wenn sie es überhaupt einmal tut und nicht inzwischen sauer wird wie der Rest Milch im Kühlschrank. Ich fürchte, dass mein Nachbar ein, wenn nicht gar zwei Paar rahmengenähte Schuhe zerschleißt, bis einmal aus Verliebtheit anständige Liebe geworden ist. Man sollte doch bei

Träumerische Buchhaltung

Meine Freundin führt seit Jahren, nein: seit Jahrzehnten ein Traumtagebuch. Neben ihrem Bett liegen stets ein Notizbuch, Filzstifte, Buntstifte, Bleistifte, Schere und Kleber. Manchmal schreibt sie auf, was sie in der Nacht gesehen hat, manchmal zeichnet sie ganze Szenen aus ihrem Traum, manchmal nur ein Bild, an das sie sich beim Aufwachen erinnern kann. Wenn sie sich an einzelne Begebenheiten nicht erinnern kann, beschreibt sie das Gefühl, mit dem sie aufgewacht ist. In dem Traumtagebuch gelesen habe ich nie, sie hat mir nur einmal aus großem Abstand eine Papiercollage gezeigt. Sie sah sehr schön aus, aber was sie genau darstellen sollte, habe ich nicht erkannt.

Viele Leute können sich später nicht an ihre Träume erinnern. Auch ich weiß am Tag nicht mehr, was mir in der vergangenen Nacht im Kopf herumgespukt ist. Aber sobald ich mich hinlege, fällt es mir wieder ein. Ich muss dazu noch gar nicht richtig liegen. Meine Erinnerung kommt schon im Hinabsinken zurück, noch bevor mein Kopf auf dem Kissen liegt. Dann weiß ich wieder, worum es in meinem Traum ging und wer darin vorkam. Die Bilder kommen zurück, Handlungen, manchmal ein ganzer Traum.

An manchen Tagen wache ich morgens auf und frage mich, ob ich das, was ich glaube, geträumt zu haben, tatsächlich in der vergangenen Nacht geträumt habe oder schon viel früher. Oder ob es nicht einfach nur ein alter Traum war, der immer wiederkommt.

Zwei, drei Tage habe ich es geschafft, mir am Morgen rasch Notizen zu machen. Dann war tagelang keine Zeit, und mein Traumtagebuch blieb unbeachtet liegen. Als es mir wieder einfiel, waren zwei Wochen vergangen. Beim Lesen gelang es mir, den Traum und das Gefühl, das er hinterlassen hatte, wieder heraufzubeschwören. Aber das Gefühl von Vertrautheit ließ schnell nach, und nach drei Wochen lasen sich meine Notizen, als wären sie nicht von mir. Wer war diese Britta, über die ich geschrieben hatte, als würde ich eine Britta kennen? Meine Traumnotizen sind unbrauchbar.

Meine Freundin hat schon 53 Traumbücher vollgeschrieben und vollgezeichnet, dicke und dünne. Ganz hinten in ihrem Kleiderschrank, unter den Skihosen und den Anoraks, füllen sie ein ganzes Regalbrett. Ich frage meine Freundin, ob sie sich später beim Lesen auch frage, wessen Träume das seien. Sie lese doch hinterher nicht noch mal, was sie sich aufgeschrieben habe, antwortet sie. „Wozu auch?“ Ich zucke mit den Schultern. Ich hatte gedacht, nur aus dem Grund mache man sich überhaupt die Mühe. Aber vielleicht hat sie anderes damit vor? Sie könne die Bücher ihren Kindern vermachen, wenn sie alt sei, schlage ich vor.„ Auf keinen Fall“, erklärt sie, „die Bücher werfe ich rechtzeitig weg.“ Woher sie wissen wolle, wann rechtzeitig ist, frage ich. Sie sagt: „Das träume ich doch vorher.“

Was Kinder anziehen

Meine Tochter hat ein Paar glitzernde Riemchenpumps in rosa bekommen. Ich wusste vorher gar nicht, dass es Absatzschuhe in Größe 30 überhaupt gibt. Jetzt weiß ich, dass es sie sogar schon in Größe 27 gibt. Die hat sich mein Sohn ausgesucht. Schon im Laden wollte er sie nicht mehr ausziehen. Ich habe beiden Kindern je ein Paar gekauft und ihnen erlaubt, die neuen Schuhe auf dem Heimweg anzulassen. Ihre eigentlichen Herbstschuhe mit weicher, atmungsaktiver Sohle und schmutzabweisendem Obermaterial, mit Fußbett innen und Reflektoren außen trug ich in einer Tüte aus dem Glitzerschuhladen nach Hause.

Andere Kinder ziehen das an, was ihnen die Eltern herauslegen. Die Mädchen schmale Jeans, dunkelblaue Blüschen mit weißen Pünktchen, gestrickte Pulloverchen in grau, Lederschühchen aus Italien, ein Mäntelchen, dazu passend Mütze und Schal. Die Jungs das Entsprechende für den kleinen Lord. Ich sage zwar, es sei abscheulich, wenn kleine Kinder herumlaufen wie Erwachsene, aber ich schiele auf das hübsch zurechtgemachte Kind mit den Zöpfen an der Straßenecke. Wieso liebt meine Tochter Omas lila Glitzerschal, der zu nichts passt und viel zu lang ist? Wieso lässt sie sich ihr Haar nicht kämmen? Wieso mag sie keine Zöpfe? Wieso?

Meine Kinder tragen, was sie wollen. Ich habe mich ergeben. Das Einzige, worauf ich bestehen muss, ist, dass ihre Kleidung bei Kälte warm hält. Daran halten sie sich und ziehen unter ihre Fantasiekleider lange Unterhemden und Strumpfhosen. Mein Sohn trägt alles, was seiner großen Schwester gehört oder früher einmal gehört hat. Pullover und Hosen, die ich für ihn kaufe, interessieren ihn nicht. Seine Sachen dürfen nicht neu sein. Oder nicht blau. Oder nicht grau. Außer, seine Schwester hat sie zuvor getragen und damit veredelt. Falls an Ihnen ein kleiner Junge mit silberner Krone, Anorak und Glitzerpumps auf einem Laufrad vorbeifährt, es könnte meiner sein.

Vor ein paar Tagen blieb eine Frau stehen, zeigte auf die Prinzessin auf dem Laufrad und fragte mich, ob das mein Sohn sei. Erst dachte ich, sie halte mich für verantwortungslos: das Kind ohne Helm, weil Helm und Krone nicht gehen, und in Pumps, die gewiss die kleinen Zehen deformieren. Doch die Frau beschimpfte mich nicht, sie beglückwünschte mich, dass ich meinen Sohn die Glitzerpumps erlaube. Wo ich die gekauft hätte? Ein paar Schritte weiter, an der Ampel, sagte ein Mann, sein Sohn würde was drum geben, bekäme er solche Pumps. Ein anderer tröstete mich, das gehe Gott sei Dank vorbei, sobald der Junge in die Schule komme. „Was meinen Sie mit: Gott sei Dank?“, fragte der erste Mann zurück. Dann wurde es grün. Eine Frau kam uns entgegen und sagte: „So ein süßes Mädchen!“ An ihrer Hand ging ein kleiner Grüffelo mit blonden Locken bis zum Ellbogen.

Vergebliche Warnungen

Pass auf. Sei vorsichtig. Langsam. Nicht so schnell. Pass auf, du tust dir weh. Vorsicht. Nein. Halt dich fest. So ist gut. Langsam. Nicht so dolle. Wie oft am Tag hört ein Kind diese Worte? Hört es sie überhaupt? Spiel nicht mit der Steckdose, spiel nicht mit dem Messer, iss langsam, jetzt mach die Augen zu, es ist schon spät.

Jahre später wird daraus „Komm nicht so spät“ und „Fahr vorsichtig.“ Ist schon irgendjemand vorsichtig gefahren, weil ihn die Mutter darum gebeten hat? Wann ist ein Kind nicht von der Schaukel gesprungen, weil die Mutter es warnte? Man könnte es sich ersparen, unentwegt zu warnen und zu informieren. Und man erspart es sich doch nicht. Es beruhigt uns selbst.

In Marokko war ich einmal in der Nähe von Marrakesch wandern oder besser gesagt, spazieren. Wir kamen von einer Konferenz und hatten uns spontan entschlossen, ein wenig zu Fuß zu gehen. Wir mussten über Felsen klettern, an manchen Stellen ging es steil hinab. „Geht langsam“, sagte der junge Mann, der uns den Weg entlangführte. Ein Stück war so schmal, dass wir nur einer nach dem anderen gehen konnten.

Der Mann reichte jedem Einzelnen die Hand, um uns Halt zu geben. Die meisten von uns hatten Schuhe mit glatten Sohlen an, keiner von uns trug Schuhe mit Profil. Immerhin hatte keine der Frauen Schuhe mit hohem Absatz an. „Letzte Woche war ich mit einer Gruppe Franzosen hier“, erzählte der junge Mann beiläufig, als er mir die Hand reichte. „Einer von ihnen hatte auch so glatte Schuhe an.“ Ich ging an ihm vorbei, um Platz für die Nachfolgenden zu machen. „Der ist hier abgestürzt“, sagte er und deutete mit dem Kopf den Abhang hinunter. „Im Krankenhaus ist er dann gestorben.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, unser Begleiter sprach Französisch. „Dabei habe ich ihm gesagt, er müsse aufpassen.“ Er zuckte mit den Schultern, und streckte die Hand dem nächsten aus unserer Gruppe entgegen. Einige wollten daraufhin umkehren. „Wieso?“, fragte der Mann. „Jetzt wisst ihr doch, wo ihr aufpassen müsst.“ Die Gruppe ging zurück zu den Autos.

Ich habe versucht, es so zu machen wie unser Begleiter aus Marrakesch: Die Konsequenzen leichtsinnigen Handelns in ihrer ganzen Breite darstellen. Als ich eines der Kinder mit heruntergelassenen Hosen und Zahnbürste im Mund durch die Wohnung rennen sah, erklärte ich ihm, wie die Bürste im Falle eines Sturzes seinen Nacken perforieren und somit das Genick brechen würde. „Dann bist du tot.“ Bisher hat das wenig Eindruck gemacht. Das nächste Mal werde ich sagen: „Dann muss der Notarzt kommen und du stirbst im Krankenhaus oder auf dem Weg dahin.“ Vielleicht werde ich zum Beweis Bilder zeigen müssen. Wie sie bald die Raucher auf Zigarettenschachteln sehen.

Ausländer sind die anderen

In der Klasse meiner Tochter ist ein türkisches Kind. Der Junge ist hier geboren, aber die Eltern sind aus der Türkei. Ich stand im Flur neben der Mutter des Kindes, wir kramten gemeinsam die Hausschuhe unserer Kinder aus der Hausschuhkiste, und sie sagte zu ihrem Sohn, er solle nicht mit den Socken über den nassen Boden gehen. An meinem Lächeln merkte sie, dass ich wohl verstanden haben musste, was sie eben gesagt hatte. „Entschuldigen Sie, ich habe mir schon gedacht, dass sie Türkin sind, aber ganz sicher war ich mir nicht“, sagte sie.

Da sie sich nun entschuldigt hatte, dass sie mich nicht sofort als Türkin erkannt hatte, entschuldigte ich mich auch: weil ich zwar gewusst hatte, dass sie Türkin war, mich aber nicht sofort zu erkennen gegeben hatte. Aber ich kann nicht anders. Einfach hinzugehen und zu sagen: „Hallo, ich bin auch Türkin“, finde ich immer ein bisschen dämlich. Ich warte lieber, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt.

Das kann manchmal eine ganze Weile dauern. Manchmal lasse ich günstige Gelegenheiten auch vorbeiziehen, weil mein Kind gerade aufs Klo muss oder ihre Freundin an mir zieht und fragt, ob sie bei uns übernachten darf. Oder einfach deshalb, weil ich mich nicht traue. Sich-nicht-Trauen ist ein Zug an mir, den ich schon lange pflege und an den ich mich so gewöhnt habe, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen kann.

Diesmal hatte ich mich aber getraut, und die Frau fragte mich, wie meine Tochter denn heißt. „Isabella“, sagte ich. Das ist zwar kein türkischer Name, aber ein Name, der auch für meine Eltern, meine beiden Großmütter und diejenigen Verwandten in der Türkei, mit denen wir ab und zu skypen, gut auszusprechen ist. In einer brasilianischen Telenovela, die meine Tante gerne sah, hatte eine Schauspielerin so ähnlich geheißen wie jetzt meine Tochter, darum kann auch die Tante sich den Namen gut merken.

„Aaah“, machte die Frau. „Sind Sie mit einem Ausländer verheiratet?“ So kann man das auch sehen, dachte ich, kommt auf den Standpunkt an, und antwortete erst einmal: „Ja.“ Sie fragte jetzt nicht weiter, ob das Kind wenigstens als Zweitnamen einen türkischen Namen hatte. Das machte sie mir sofort sympathisch. Trotzdem: Die Frage nach dem ausländischen Mann ging mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Für meine Familie ist mein Mann eben mein Mann. Da käme keiner auf die Idee, ihn als Ausländer zu bezeichnen. Auch sich selbst würde keiner als Ausländer bezeichnen. Ausländer sind immer die anderen, so geht die Logik.

Ich erzählte meiner Freundin von dem Gespräch im Schulflur. „Die Frau hat wahrscheinlich gedacht, dein Mann ist Spanier“, sagte sie. Sie hat sicher recht. Hat aber auch die Mutter des Jungen recht? Und wäre mein Mann ein Spanier: Wäre er dann ein Ausländer?

Kultur im Konjunktiv

Eine meiner ältesten Freundinnen ist nach Istanbul gezogen. Wir kennen uns eigentlich noch gar nicht so lange, ich habe Freundinnen, die kenne ich schon viel länger. Sie und ich haben uns erst an der Universität kennengelernt. Aber auch das ist bald zwanzig Jahre her. Erschreckend ist das. Wenn früher in der Schule die Lehrer sagten, an deinem Platz hat vor zwanzig Jahren der Soundso gesessen, und der ist heute Bankdirektor, dann hätte das auch gut im Mittelalter gewesen sein können.

Ich habe niemanden in Istanbul, zu dem ich ziehen könnte. Leider Gottes ist niemand von meinen Verwandten an irgendeinen interessanten Ort gezogen. Entweder sind sie da geblieben, von wo meine Eltern schon vor 40 Jahren abgehauen sind, oder sie sind an noch erbärmlichere Orte gezogen, weil sie nur dort einen Studienplatz, einen Posten beim Militär oder eine Anstellung als Mathelehrerin gefunden haben. Am weitesten weg von daheim sind meine Eltern. Man kann jedoch nicht behaupten, dass ihr neues Zuhause in Konkurrenz zu ihrem ehemaligen Zuhause stünde. Auch hier gibt es Traktoren, sie rattern regelmäßig an der Tür vorbei, um auf den Feldern hinter dem Haus warmen Mist auszustreuen.

Seit meine Freundin in Istanbul wohnt, fragt meine Mutter, wie lange wir eigentlich noch in Berlin bleiben wollen. Ich hätte ihr nichts von meiner Freundin erzählen sollen. „Wie lange soll das so weitergehen?“, fragt sie. „Ihr dort, wir hier, zwischen uns 800 Kilometer?“ Es sind nur knapp 600 Kilometer. Aber weit weg ist weit weg, da kommt es auf 200 Kilometer Differenz nicht an. „Wäre es nicht schön, wir würden nah beieinander wohnen?“

Ich bin gern bei meinen Eltern, und wenn es wieder einmal besonders schön bei ihnen ist, sage ich manchmal zu meinem Mann:„Vielleicht sollten wir doch in ihre Nähe ziehen. Was meinst du?“ Dabei kenne ich seine Antwort schon: „Ich ziehe nicht weg aus Berlin. “Das sagt er, seit ich ihn kenne. Er will nicht fort aus Berlin, weil man hier so viel unternehmen könne. Schon allein wegen der Kultur, sagt er.

Kultur! Als ob wir ins Theater gingen, ins Kino, in Ausstellungen. Alle vierzehn Tage kaufen wir ein Veranstaltungsmagazin, manchmal mache ich mit Filzstift Kreise um Lesungen oder Konzerte, aber dann müsste man sich um einen Babysitter kümmern oder wenigstens wach bleiben bis 21 Uhr. Im Dorf meiner Großmutter in der Türkei könnten wir im Werkzeugschuppen wohnen, gleich neben der Feuerstelle, wo sie morgens Maisfladen backt, es würde keinen großen Unterschied machen. Kulturell würde es uns an nichts fehlen. „Aber wir könnten doch, wenn wir wollten“, sagt mein Mann. Das ist wahr. Wir könnten ausgehen, wenn wir wollten. Die Möglichkeit kann uns keiner nehmen. Also bleiben wir.

Gierig nach Büchern

Als ich noch zur Schule ging, verbrachte ich eine Menge Zeit in der Stadtbücherei. Wenn meine Eltern von der Arbeit zurückkamen, vermissten sie mich nicht, wenn sie den Zettel mit der Aufschrift „Bin in der Bücherei“ am Garderobenspiegel fanden. Das Lesen war heilig bei uns zu Hause, sofern man überhaupt von heilig sprechen kann. Meine Eltern dachten nicht in diesen Kategorien. Wenn ich in der Bücherei war, war alles in Ordnung. Ich durfte so lange bleiben, wie ich wollte, lesen, was ich wollte, ausleihen, was ich wollte, nur leider nie so viel, wie ich gerne hätte. Vier Bücher waren erlaubt für eine Ausleihzeit von vier Wochen, die Bücherei bestimmte das so.

Vier Bücher waren für mein Lesetempo völlig ausreichend, dennoch war ich jedes Mal frustriert, wenn ich mit ihnen im Beutel die Holztreppe hinunterging. Es war immer dasselbe: Ich kam durch die Glastür, hängte meine Jacke an einem der Ständer in der Eingangshalle auf, ging an der Ausleihe vorbei und stand mittendrin. Überwältigt von der Menge, aufgeregt und gleichzeitig gehetzt ging ich in die Ecke, in der die Jugendbücher standen, zog mir einen Roman heraus und fing gleich an zu lesen. Vielleicht würde ich wenigstens schon eines zu Ende bringen, dann blieben mir immer noch vier weitere, die ich mit nach Hause nehmen könnte. Sonst würde ich nie, nie im Leben all das lesen können, was dort stand.

Meine Elternwaren keine großen Leser und die paar Bücher, die sie hatten, passten leicht auf das Brett im Wohnzimmerschrank. Es blieb noch genug Platz für eine Vase mit Stoffblumen und die Zigarettenkiste für die Gäste. Aber sie ließen mir meine Bücher. Wenn ich las, wurde ich nicht gestört. Ein Glück, dass ich mich für Geschichten interessierte und nicht für fürs Fernsehen oder seltene Zierfische. Niemand war der Meinung, das Lesen dumm mache. Schlechte Augen, das ja, aber wenn ich die Lampe an meinem Bett dazu einschaltet, war meine Mutter zufrieden und zog die Tür zu meinem Zimmer wieder zu. Lesen machte keinen Dreck und dank der Bücherei kostete es auch nichts.

Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir keine Mühe geben musste. Ich würde unmöglich alle Bücher lesen können, wahrscheinlich säße ich noch immer mit einem Roman von Christine Nöstlinger unter meiner Biene Maja-Decke, all die Bücher aus der Erwachsenenabteilung noch vor mir. Die Freude am Buch ist geblieben, der Frust verschwunden, aber mit ihm leider auch die Trunkenheit beim Anblick von Bücherwänden. Sie überkam mich nun wieder einmal, mit der gleichen Wucht. Ich habe mich gefreut über das vertraute Gefühl, und gedacht, da ist sie wieder, diese Leidenschaft und habe noch ein Buch und noch ein Buch und noch ein Buch gekauft. Als ich mein Gepäck auf den Fahrradkorb hievte, kam mir der Gedanke, dass ist keine Leidenschaft, das ist bloß Gier.

Gegen Duft hilft gar nichts

Im Radio habe ich gehört, dass die Behaglichkeit am Arbeitsplatz auch von der Luftgeschwindigkeit im Raum abhängt. Sie solle nicht über 0,15 Meter pro Sekunde liegen. Schnellere Luft empfinde man als unangenehme Zugluft.

Ich habe keine Möglichkeit, die Luftgeschwindigkeit an meinem Arbeitsplatz zu messen. Wenn es zieht, schließe ich die Wohnzimmertür. Das tue ich aber auch, wenn es laut ist, weil die Waschmaschine schleudert, oder wenn es riecht. Der Geruch muss gar nicht unangenehm sein. Es gibt Tage, da riecht es schon am Morgen so gut aus der Küche, dass ich nur ans Essen denken kann, wenn die Tür offensteht.

Neulich duftete es den halben Tag lang nach unserem bevorstehenden Abendessen, einem Auflauf aus Süßkartoffeln und Sahne. Mein Mann wollte das Essen machen, kommt aber abends erst um sieben nach Hause, und da die Kinder um acht schlafen, wäre ihm wenig Zeit für die Vorbereitung geblieben. Daher bereitete er den Auflauf schon am Morgen zu, bevor er den Kleinen in die Kita brachte.

Die kleingehackten Salbeiblätter verbreiteten zuerst ihren Duft, dann der Rosmarin, und dann überdeckte der Knoblauch alles. Als mein Mann ins Büro musste, bedeckte er die Form mit Alufolie und stellte sie in den Backofen. Am Abend würden wir den Ofen anmachen, die Sahne zu den Kartoffeln geben und fertig.

Der Duft blieb nicht in der Küche, er kroch unter den Türen hindurch bis an meinen Schreibtisch. Die Folie half nichts, auch die Backofentür hielt nichts zurück. Ich musste die Form auf den Balkon stellen. Damit sich der Duft unseres halbfertigen Abendessens nicht im gesamten Innenhof ausbreitete, legte ich noch das größte Schneidebrett obendrauf, das wir zu Hause haben. Dennoch musste ich am Schreibtisch die ganze Zeit ans Essen denken. Jede halbe Stunde machte ich mir ein Brot, aber im Vergleich zu dem, was uns am Abend erwartete, schmeckte alles fad.

Ich suchte im Internet, ob man außer der Luftgeschwindigkeit vielleicht auch den Geruch am Arbeitsplatz messen kann. Ich fand alles Mögliche: Dass der Schallpegel nicht höher als 45 Dezibel sein darf, wenn man sich richtig konzentrieren will. Dass der Computerbildschirm so aufgestellt werden muss, dass das Tageslicht weder blendet noch vom Monitor reflektiert wird. Dass ältere Menschen mehr Licht als jüngere brauchen. Dass man 20 Prozent der Arbeitszeit stehen soll und nicht sitzen. Dass der Raum nicht wärmer als 22 Grad sein, die Luftfeuchte ungefähr 50, aber keinesfalls mehr als 60 Prozent betragen soll. An Gymnastik hatte man gedacht und an höhenverstellbare Tische, an Pausen für die Augen, an Pausen fürs Pinkeln. Ans Wassertrinken. An bequeme Kleidung, die beim Sitzen nicht kneifen sollte. An alles. Nur nicht an mein Problem.

Mit Unterhosen putzt man nicht

Als die Putzfrau das Sofa von der Wand zieht, beschließe ich, die Wohnung zu verlassen und irgendwo einen Kaffee zu trinken. Sie bleibt drei Stunden, da bleibt mir nach dem Kaffee sogar noch genügend Zeit, um zu Obi zu fahren und endlich das ausziehbare Wäschegitter umzutauschen. Ich habe gestern Abend unter hämischen Kommentaren meines Mannes den Schreibtisch leergeräumt und mit einem feuchten Lappen drübergewischt. Auch die Fensterbretter und die frei zugänglichen Stellen an den Bücherregalen habe ich saubergemacht. Ich finde, das reicht. Ich muss ihr nicht auch noch Gesellschaft leisten.

Unsere Putzfrau macht gründlich sauber, und im Grunde mögen wir einander recht gern. Sie weiß genau, was sie will. Sie schreibt mir auf, welches Scheuerpulver sie haben will und welchen Edelstahlreiniger, sie braucht Brennspiritus und Tabs, die man ins Klo werfen kann. Die größten Probleme in unserem Haushalt sind ihrer Meinung nach Kalk, Staub und Haare. Mein Mann und ich haben mehr als genug Haare auf dem Kopf. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Über Kalk haben unsere Putzfrau und ich schon lange nicht mehr geredet. Den scheint sie irgendwie abgeschafft zu haben, obwohl wir weiterhin so hartes Wasser haben. Wir unterhalten uns lieber über die Angewohnheiten der anderen Leute, bei denen sie putzt. Das ist wesentlich interessanter.

Ich habe nicht nur Staub gewischt, ich habe auch unter dem Bett gesaugt und im Kinderzimmer alles aus dem Weg geräumt, was beim Bodenwischen stören könnte. Den Sand im Flur habe ich mit den Füßen zusammengeschoben und das Häufchen mit nassem Küchenpapier aufgetupft. Unsere Putzfrau soll nicht denken, dass wir dreckig sind.

Statt aber mein Vorbereitungsputzen zu würdigen, schimpft sie über die alten, aber bei 90 Grad gewaschenen Herrenshorts, die ich in den Eimer mit den Putzlappen geworfen hatte. Sie putze nicht mit Unterhosen, sagt sie. Kein Problem, sage ich und denke an meine Tante. Die hängt keine Damenunterhose neben Herrenunterhosen, sie verhängt Unterwäsche grundsätzlich nur mit T-Shirts und Hemden. Jeder, wie er mag.

Dann macht unsere Putzfrau eine Bemerkung über meinen Bauch. Sie macht oft Bemerkungen über meinen Bauch. Diesmal fragt sie, ob ich abgenommen hätte. Zwei Kilo? Beim letzten Mal hat sie noch gesagt, ich hätte drei oder vier Kilo zugenommen. Manchmal fragt sie, ob ich schwanger sei. Manchmal sagt sie, meine Brüste seien größer geworden. Ein andermal fragte sie, ob ich nur an den Schläfen so viele graue Haare hätte oder überall. Als ich bei Obi an der Kasse stehe, hoffe ich, dass zu Hause alles in Ordnung ist. Lieber Gott, mach’, dass sie keine Unterhosen hinter dem Sofa findet.

Radfahren ist nichts für mich

Am Mittwoch vergangener Woche fuhr ich mit dem Rad nach Charlottenburg. Die Sonne schien, der Radweg war breit, ich schoss mit einigem Tempo an der Spree entlang und freute mich, dass ich ohne Mühe im sechsten Gang fahren konnte. Ich war gerade unter einer Brücke durchgefahren, da kam jemand von der Seite, ebenfalls auf dem Rad. Ich nahm an, er würde bremsen, er nahm an, ich würde bremsen, also bremste erst keiner von uns und dann alle beide, aber mit Karacho. „Bisschen langsamer würde auch gehen, oder?“, rief der andere, und ich: „Sie waren doch genauso schnell!“ Damit war die Sache noch nicht vorbei. „Es gilt immer noch rechts vor links“, brüllte der andere, woraufhin ich meinen Jetzt-werde-ich-Ihnen-aber-mal-was-sagen-Blick aufsetzte und rief: „Wer kam denn hier von rechts?“ Die Ruferei war unnötig, wir standen keinen Meter voneinander entfernt. Weil der andere das jetzt auch bemerkt hatte, sagte er ganz ruhig: „Ich kam von rechts.“

Weil ich mich mit so einem Quatsch natürlich nicht aufhalten lasse, stieg ich wieder aufs Rad und fuhr weiter, nach ein, zwei Tritten floss wieder sauerstoffgesättigtes Blut durch mein Hirn, und vielleicht lag es daran, dass ich mich jetzt auch wieder erinnerte, wo rechts und wo links war. Und dabei feststellte, dass der andere recht gehabt hatte. Ich hätte ihn vorbeilassen müssen. Ob er noch länger stehen blieb, kann ich nicht sagen. Ich musste ja nach vorne gucken.

Am Freitag stieg ich wieder aufs Rad, diesmal, um meinen Sohn von der Kita abzuholen. Der Eingang zum Garten war mit rot-weißem Absperrband umwickelt, hüfthoch aber nur, also bückte ich mich und schlüpfte drunter durch. Ichmusste ja zu meinem Kind. Zwei andere hatte ich an der Hand, ein eigenes und ein mir für den Nachmittag anvertrautes. Die Bauarbeiter schimpften, ich lächelte freundlich zurück. Während ich nach meinem Sohn Ausschau hielt, umwickelten die Bauarbeiter das Tor und auch die Tür zum Fahrradabstellplatz mit ihren Bändern. Das merkte ich erst auf dem Weg hinaus, nun mit drei Kindern im Schlepptau.

Diesmal wurden die Bauarbeiter laut: „Gehen Sie die zwei Meter doch außenrum, Herrgott, ist das so schwer?“ – „Ich muss doch zu unseren Fahrrädern“, rief ich, worauf sie erwiderten: „Wie kann man nur so verantwortungslos sein!“ Darauf sagte ich dann nichts mehr, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als umzukehren, ich wäre aus dem rotweißen Sperrgebiet sonst nicht mehr hinausgekommen. Also krochen wir zu viert unter dem Band wieder hindurch. Im Garten gab es fragende Blicke der Erzieher, der Eltern und vieler vernünftiger Kinder.

Aus so viel Missgeschick habe ich jetzt den einzig möglichen Schluss gezogen. Ich werde das Radfahren bleiben lassen. Das ist einfach nichts für mich.

Beine machen, was sie wollen

Im Zeichenkurs haben wir mit geschlossenen Augen gezeichnet. Wer nicht anders konnte, durfte die Augen offen lassen, den Blick aber keinesfalls vom Modell abwenden oder er musste stur zum Fenster hinaussehen. Das soll einem die Angst vor dem weißen Blattnehmen und die Hand lockern. Die Hand zeichnet schon, ohne dass sich der Kopf dazu entschlossen hat. Das hilft, man kann ja nicht immer darauf warten, dass man innerlich soweit ist. Solche Übungen gibt es auch fürs Schreiben. Wildes Schreiben haben wir das in der Schreibwerkstatt genannt. Der Stift durfte nicht abgesetzt werden, sondern musste immer weiter, immer weiter, immer weiter. Wenn ich nicht mehr wusste, was ich schreiben sollte, schrieb ich „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll“ oder „Humpen pumpen sonntags schöner, Freitag ist Walpurgisnacht. Wer immer lacht, ist niemals dumm, kannst du mir einen Hammer leihen?“ Das ist schrecklich. Wenn man einmal damit angefangen hat, kommt man nicht mehr hinterher. Als hätte man ein kleines Loch in eine Tüte mit Wasser gerissen, die Gedanken laufen und laufen aus einem heraus, so lange, bis man ausgelaufen ist. Und sich fühlt wie eine leere, nasse Tüte.

Meist kommen die Wörter schnell, sie sind schneller als die Hand. Mit dem Schreiben komme ich kaum hinterher. Mit dem Tippen auch nicht, obwohl das schneller geht. Ich verschreibe mich selten, aber ich vertippe mich andauernd. Meine Finger halten sich nicht an die Reihenfolge. Dabei habe ich die einmal gelernt, meine Finger kennen ihre Position, trotzdem tippen sie nach eigenen Rgelen, ach, Regeln.

Mein Mann hat das Joggen angefangen. Nicht überlegen, ob man heute laufen gehen soll oder nicht, sondern Schuhe anziehen und raus. Der ist gelaufen, Kniebeugen hat er gemacht, die Waden gedehnt und sitzt heiß und kalt geduscht vor seinem Frühstück, noch bevor er es gemerkt hat. Das habe ich auch versucht. Als ich die Treppen hinunterlief, rief es in mir „nein, nein, nein“. Ich lief und lief, ich hatte mich selbst überlistet, doch ehe ich mich versah, stand ich am Aufzug, fuhr nach oben und war nach viereinhalb Minuten wieder zu Hause. „Schon zurück?“, fragte mein Mann. „Nein, ich jogge noch“, antwortete ich. Das war nicht gelogen. Im Kopf lief ich, aber ich habe keine Kontrolle über meinen Körper. Die Gedanken kommen, wie sie kommen, die Finger tippen, was ihnen gefällt, und die Beine machen ohnehin, was sie wollen.

Deutsche Lappen sind die besten

Die Drogerie nebenan ist meiner Cousine zum Verhängnis geworden. Den Großteil ihres Geldes, das sie sich für ihre Sommerferien in Berlin mitgebracht hatte, hat sie dort gelassen. Sie hat es für Putzlappen, Staubwedel, Flaschenbürsten, Spültücher, Einweghandschuhe, Teefilter, Scheuerlappen, Einmal- Waschlappen und Fensterleder ausgegeben. „Das gibt es in der Türkei doch auch“, sage ich zu ihr.

Sie kniet auf ihrem Koffer, und sobald sie das Gewicht verlagert, quellen die Spülschwämme an den Ecken heraus. Der Reißverschluss lässt sich kaum schließen. „Eure Putztücher sind besser“, sagt sie. Ich weiß, ich bin damit groß geworden: „Made in Germany“ schlägt „Made in Turkey“, selbst wenn das, was im deutschen Laden verkauft wird, in Wahrheit „Made in China“ ist. „Meine Mutter wird sich riesig freuen“, sagt meine Cousine.

Ich stelle mir vor, es wäre meine Schwester, die seit 40 Jahren in einem Land lebte, von dem ich schon allerhand gehört hätte, in dem ich selbst aber noch nie gewesen wäre, und meine erwachsene Tochter wäre die Erste, die ihre Tante in der Ferne besucht. Nach Wochen käme das Kind zurück, es würde sich mir am Flughafen in die Arme werfen und am Abend seinen prall gepackten Koffer auspacken. Und dann spränge mir ein Dreierpack Topfreiniger entgegen, dazu eine Spülbürste und eine Tüte mit baumwollgefütterten Spülhandschuhen, wie es sie auch im Kaufhaus in meiner Straße gibt „Schwammtücher aus der EU! Deutsche Lappen in freundlichem Orange und frechem Apfelgrün!“, würde ich rufen und meine Tochter an die Wange drücken.

Meine Cousine quetscht ungerührt weiter, der Koffer lässt sich erstaunlicherweise doch schließen und wiegt nur wenig mehr als die erlaubten 20 Kilo. „Gegen anderthalb Kilo mehr wird sicher niemand etwas haben“, sagt meine Cousine.

Meine Mutter, meine Tanten, die meisten türkischen Frauen, die ich kenne, putzen viel. Sie putzen Dinge, die ich noch nie in meinem Leben geputzt habe, die Wohnungstür zum Beispiel. Das Fensterbrett auf der Fassadenseite. Das Stück Regenrinne, das man vom Balkon aus erreichen kann. Sie waschen das Geschirr, das gespült werden soll, erst mit heißem Wasser ab, dann mit Seifenwasser und hinterher nochmal mit heißem.

Doch, doch, meine Cousine kennt ihre Mutter gut. Meine Tante wird jauchzen beim Anblick der Mikrofasertücher.

Blond ist auch in Ordnung

Unserem Ken ist die Hüfte gebrochen. Und unserer Tochter das Herz. Jedenfalls tut sie so, und die ganze Familie sucht nach einem neuen Ken. Aber nicht nach irgendeinem. Dunkelhaarig müsste er sein. Ken ist Barbies Freund, unseren haben wir auf dem Flohmarkt gekauft. Ich weiß nicht, woher ich jetzt einen dunkelhaarigen Ken bekommen soll.

Meine Freundin hat angeboten, Ken im Labor zu reparieren. Sie ist Anaplastologin. Anaplastologen stellen Gesichtsteile her. Nasen, Augenlider, auch Wangen aus Silikon, die von Hand geformt und eingefärbt werden. Wenn jemandem wegen eines Tumors oder eines Unfalls so viel vom Gesicht fehlt, dass ein plastischer Chirurg nichts mehr tun kann, dann stellt meine Freundin eine solche Prothese her. Wer Nasen und Ohren formen kann, die von echten Nasen und Ohren nicht zu unterscheiden sind–mit Poren und Äderchen, mit Pigmentflecken und Härchen –, der kann wohl mit Leichtigkeit eine kaputte Hüfte reparieren, erkläre ich meiner Tochter. Geduldig warten wir auf Kens Rückkehr aus der Klinik.

Als er wiederkommt, kann er beide Beine wieder bewegen, auf dem Lehnstuhl sitzen und sich aufs Barbiefahrrad schwingen. Als er jedoch mit Barbie reiten soll, knackst es so leise, dass wir es kaum hören. Erst als das eine Bein schwer in der silbernen Prinzenhose hängt und schließlich fast aus dem Hosenbein rutscht, sehen wir, was passiert ist. Die neuen Kens sind alle blond, selbst die gebrauchten bei Ebay. Es fällt mir schwer, meiner Tochter die blonden Jungs anzupreisen. Die Dunkelhaarigen seien die Schöneren, Männer wie Frauen, erkläre ich ihr doch seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal sagte, sie hätte viel lieber blonde Haare. Jetzt habe ich sie so sehr auf Dunkel konditioniert, dass sie mir nicht glaubt, wenn ich sage: „Komm, der blonde Ken sieht doch super aus.“ Sie nimmt keinen anderen, und die Freundin, die versucht hat, seine Hüfte zu retten, gibt ihr recht. Sie sagt, die blonden Kens sähen bubihaft aus.

Vor dem Schlafengehen lese ich nun wieder Dornröschen vor, nicht mehr Schneewittchen mit dem Haar wie Ebenholz. Das Dornröschen in unserem Buch hat langes, blondes Haar. Auch Rapunzel ist blond, Aschenputtel, Gretel und das Waisenkind aus den Sterntalern. Ganz sachte darf das Blond Einzug halten in unser Haus. Dank Kens Hüftschaden.

Selektive Erinnerung

Fünf Wochen hat unsere Reise durch die Slowenien, Kroatien und Bosnien gedauert. Ein Freund in Sarajevo hatte uns geraten, unbedingt noch weiterzufahren bis nach Kotor in Montenegro. Als wir aber in Dubrovnik angekommen waren, fand ich, 1 650 Kilometer Heimweg seien lang genug. Ich wollte nicht noch 180 Kilometer dazu.

In einem kleinen Notizbuch habe ich alle Stationen unserer Reise festgehalten, München: zwei Nächte, Villach: eine, Bled: drei. Hätte ich das Büchlein nicht, wüsste ich heute nicht mehr, wo wir waren. Wir haben Fotos gemacht, natürlich. Auf denen sind aber immer nur die Kinder zu sehen.

Es gab viele schöne Momente auf der Reise. Den Tag an den Plitvicer Seen etwa, als das eiskalte Wasser plötzlich über die Holzstege schwappte und alle die Schuhe ausziehen mussten, ehe wir weiterspazieren konnten. Oder die Holzhexe in dem Lokal in Bled, die zur Freude der Kinder unglaublich laut krächzte, wenn man in die Hände klatschte. Meine Tochter sagt, sie sei das Beste an der Reise gewesen. Ich habe gelesen, dass man sich als Erwachsener an fast nichts mehr aus der Zeit erinnert, in der man jünger als vier Jahre alt war. Unsere Kinder werden sich ganz gewiss an dieses krächzende Monstrum erinnern.

Damit sie sich später einmal auch an den Rest erinnern, erzähle ich ihnen immer wieder von dem neugeborenen Kälbchen und den Seen, den Kiesstränden und was „Guten Morgen“ auf Kroatisch heißt. Inzwischen habe ich ihnen und allen anderen aber so häufig davon erzählt, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich mich an die Reise erinnere oder an das, was ich darüber erzähle. Ich erzähle immer dasselbe, manchmal ist die Geschichte bis hin zur Wortwahl identisch. Die Erinnerung hat sich verselbstständigt.

Je öfter ich über diesen Urlaub spreche, desto mehr verblasst all das, worüber ich nicht spreche. Ich muss im Notizbuch nachsehen, an welchen anderen Orten wir noch waren, weil die langweiligen Tage und die, an denen wir uns im Auto angeschrien oder beim Frühstück nicht miteinander geredet haben, in meiner Geschichte nicht vorkommen. Und ich bereue jetzt auch, nicht bis Montenegro gefahren zu sein. Ich habe mir Bilder von den Stränden dort angesehen. So oft, dass ich mich genau an den Nachmittag in Kotor erinnere, an dem der Wind unseren Sonnenschirm über den ganzen Strand rollte.

Spazieren – aber warum zu Fuß?

Wir sind mit meiner Cousine nach Potsdam gefahren. Mein Mann hatte sich darum gekümmert, dass wir zur rechten Zeit loskommen, mit dem Regionalzug statt mit der S-Bahn fahren und auch genügend Anschlusstickets haben. Meine Cousine, die Kinder und ich mussten uns nur antreiben lassen und ihm hinterhertrotten.

Als ich am Morgen die Augen aufschlug, weil mein Sohn mir mit dem Zeigefinger ein Loch in den Hals bohren wollte, stand mein Mann geduscht am Bett und sagte, in einer Stunde fünfzehn müssten wir aus dem Haus sein. Ich rief meine Cousine an, die bei einer Nachbarin im Erdgeschoss übernachtet hatte, weil ich keine Lust hatte, extra mit dem Lift hinunterzufahren. Sie klang sehr verschlafen, versprach aber sich zu beeilen. So verpassten wir den Zug nur ganz knapp. Dass wir deshalb die S-Bahn nehmen mussten, ist in meinen Augen kein Ding. In denen meines Mannes allerdings schon. Zwölf Minuten sind zwölf Minuten.

„Wir gehen vom Bahnhof zum Neuen Garten, im Schloss Cecilienhof können wir etwas essen, dann baden wir im Jungfernsee und fahren mit dem Wassertaxi zurück zum Bahnhof. Das sind ungefähr vier Kilometer Fußweg“, sagte er. Vier Kilometer, dachte ich, an diesem brütend heißen Tag. Der Weg war staubig, und meine Cousine trug ein Flanellhemd, weil es am Morgen kühl gewesen war. „Macht dir der Ausflug Spaß?“, fragte mein Mann meine Cousine. „Ja, sehr“, sagte sie.

Auch mein Mann war jetzt sehr zufrieden, nur ich nicht. Es hatte sich ja gerade herausgestellt, dass meine Geh-Faulheit eine sehr individuelle Macke war, während ich ihm bisher immer erzählt hatte, sie liege bei uns in der Familie. Bei unserem ersten gemeinsamen Besuch bei meinen Eltern waren wir mit dem Auto spazieren. Das heißt, wir fuhren im Auto durch unsere schöne schwäbische Heimat. Einmal stiegen wir sogar aus, liefen bis zu einem Kornfeld und setzten uns dort auf eine Bank, ehe wir zum Auto zurückkehrten. Seit damals heißt so eine Ausfahrt für meinen Mann türkischer Spaziergang.

Im Neuen Garten wollten sich die Kinder den Eiskeller ansehen, nicht weit entfernt davon fand ich eine Bank. Mein Mann blieb bei den Kindern, wir beiden Cousinen setzten uns in den Schatten. Als wir uns einigermaßen erholt hatten, stand ich auf, um die anderen zu suchen. „Musst nicht laufen“, sagte sie. „Ich rufe sie kurz auf dem Handy an.“

Ausflug ins Paradies

Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, sich im Kaufhaus einschließen zu lassen. Ich hätte mir Chips aus der Lebensmittelabteilung geholt und Cola, wäre hinauf zu den Fernsehern oder zu den Zeitschriften geschlichen, dann in eines der Betten.

Die Elternmeines Cousins besaßen kein Kaufhaus, aber dafür den einzigen türkischen Lebensmittelladen in der Stadt. Klein und eng war er. Der Cousin war gar kein richtiger Cousin, seine Eltern kamen aus demselben Ort in der Türkei wie meine, es gab auch eine Eheschließung, die uns zu entfernten Verwandten machte, aber weil erwachsene Frauen von Kindern mit „Teyze“, Tante, angesprochen werden, war seine Mutter meine Tante und er mein Cousin. Ganz einfach.

Der Cousin wohnte mit seinen Schwestern und den Eltern in einer Wohnung über dem Laden. Wenn wir zu Besuch waren und es Abend wurde, schickte man uns hinunter, um Gemüse, Brot und Getränke fürs Abendessen zu holen. Das war ein wenig so, wie ich mir die Nächte im Kaufhaus vorstellte, zwei Treppen hinunter, und wir standen im Paradies: Orangen, Oliven, Marmelade und Salzstangen, Schokoriegel, Limo und Nutella. Wir futterten uns durch das Angebot, das der Onkel im Großmarkt gekauft hatte. Wenn wir wieder hoch in die Wohnung kamen, gab es Ärger, nicht weil wir uns schon mit Süßem satt gegessen hatten, sondern weil wir so lange gebraucht hatten.

Als wir uns eines Tages durch das gesamte Süßigkeitenregal gegessen hatten, kamen wir auf die Idee, uns auszuziehen und uns einmal ganz genau zu untersuchen. Nicht im Verkaufsraum, wo von draußen jeder hätte hereinsehen können. Wir versteckten uns hinten im Lager. Einmal erwischte uns die große Schwester zwischen Kisten mit Lauch und Stapeln von Küchenpapier, man hatte sie geschickt, weil die Zwiebeln im Topf schon glasig waren, wir das übrige Gemüse aber noch nicht geliefert hatten. Vorwurfsvoll nahm sie den Einkaufskorb mit Tomaten und Paprikaschoten an sich, zischte „Das sag ich Papa“ und rannte die Treppe hoch. Sie hat uns nicht verraten, aber uns mit „Das sage ich Papa“ in Schrecken versetzt – wenn wir nach dem Spielen nicht aufräumen oder keine Nugatwaffeln für sie holen wollten.

Der Gedanke, nachts im Kaufhaus eingeschlossen zu werden, verlor von da an seinen Reiz. Ich mag auch Süßes nicht sehr. Das ist allein die Schuld meiner Cousine.