Besser als jede Knusperhexe

2014-07-11 18-35-59_0032Als Hausaufgabe sollte meine Tochter ihre Großeltern fragen, wie die Schule früher war und ein Bild dazu malen. Sie hörte sich zunächst am Telefon die Erzählungen ihres Großvaters väterlicherseits an. Der erzählt sehr detailreich, und je länger er redet, desto mehr fällt ihm wieder ein. Wenn er abschweift, und das tut er oft, spannt er den Bogen anschließend wieder zurück zur eigentlichen Geschichte. Meine Tochter kennt das und holt sich in der Zwischenzeit etwas zu trinken. Das Telefon lässt sie solange auf dem Schreibtisch stehen. Der Opa merkt nicht, dass ihm niemand zuhört. Auch die dazugehörige Oma wurde interviewt, sie hat einen ähnlichen Erzählstil, das bringen vierzig Jahre Ehe mit sich.

Mein Vater redet nicht gerne und wusste zu seiner Schulzeit nicht mehr zu sagen, als dass sie schon sehr lange zurückliegt. Dann gab er den Hörer an meine Mutter weiter. Sie war vier Jahre auf der Schule, dann fand mein Großvater, dass sie genug gelernt hatte und schickte sie nach den Sommerferien nicht mehr hin. „Ich habe jeden Tag geweint“, sagte meine Mutter. „Ich ging so gerne in die Schule. Aber ich musste auf meine Geschwister aufpassen und auf dem Feld helfen.“

Meine Tochter hörte sich die Geschichte meiner Mutter an, als bekäme sie gerade „Hänsel und Gretel“ vorgelesen. Es tauchte aber keine böse Hexe auf, nur blaue Schuluniformen mit weißem Kragen und ein Lineal, mit dem die Kinder geschlagen wurden, wenn der Kragen schmutzig war. „Im Winter mussten wir Holzscheite mitbringen für den Ofen in der Schule, wir hatten ja keine Heizung wie ihr, und wer kein Holz dabeihatte, bekam wieder Schläge mit dem Lineal.“ Meine Tochter war hingerissen. Das niedersausende Lineal war aufregender als jede böse Hexe.

Nach all dem Telefonieren malte sie ein schauerliches Bild, in dem Kinder in blauen Kleidern kleine, schwarze Striche weinten. Eines schaute aus dem brennenden Ofen heraus. So viel künstlerische Freiheit muss sein. Ehe sie Albträume bekommt, ist es besser, sie verarbeitet die Erinnerungen ihrer Großmutter auf diese Art.

Was die Lehrerin zu der Hausaufgabe gesagt hat, erfahre ich nicht, weil sie krank ist. Es sei eine andere Frau dagewesen, und die habe das Bild nicht angesehen, erzählt meine Tochter. Was sie bei ihr gemacht haben, frage ich. „Wir mussten Kartoffeln schälen“, sagt sie. Kartoffeln? Wozu? Mein Kind sagt, die Frau habe sich eine Kartoffelsuppe kochen wollen. „Und danach mussten wir still rechnen. Wir durften nicht nach links oder rechts gucken, nur jeder auf sein eigenes Blatt. Sie hat kleine Vorhänge zwischen uns gespannt und Gitter, die durfte man nicht anfassen. Die waren ganz heiß.“ Das war zu erwarten. Mit Geschichten vom Morgenkreis kann meine Tochter mit ihrer heiß geliebten Großmutter ja schlecht mithalten.


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